Flucht aus Oberschlesien: Mit 12 musste Horst für die Familie sorgen
Schau mich an - Gesicht einer Flucht
Haltern/Marl. Viele Mitbürger kennen Geflüchtete nur als "die Flüchtlinge", fremd und anonym. Für den Asylkreis Haltern am See hat die Flucht inzwischen viele sehr unterschiedliche Gesichter bekommen. In dieser Serie stellen wir einige vor. Horst, 85 Jahre, erlebte die Flucht aus Oberschlesien als Abenteuer – bis der Hunger kam.
"Zum Abschied sagte mir mein Vater: „Du bist der Älteste, Du musst jetzt für die Familie sorgen.“ Das war am 20. Januar 1945, ich war zwölf Jahre alt. Mein Vater hatte schon länger gesagt, der Krieg sei verloren. Doch meine Mutter hoffte bis zum Schluss auf Hitlers Geheimwaffe. Aber die Russen standen schon vor Beuthen. Mit dem, was wir mit zwei Händen tragen konnten, sind wir mit dem letzten Zug raus; meine Mutter, meine acht Jahre alte Schwester, mein sechsjähriger Bruder und ich. Unser Vater wurde noch im letzten Augenblick zur SS eingezogen. Der Zug fuhr durch Niederschlesien und es war saukalt, minus 20 °C. Wir hatten nur eine Decke, darin war der Kleinste eingewickelt. Um uns warm zu halten, sind wir Kinder herum gehopst. Es ging in die Tschechoslowakei, ins Protektorat Böhmen und Mähren, wie es damals hieß. In einer alten Schule kochten Tschechoslowakinnen für uns. Sie knallten uns die Suppe auf den Teller. Ich kam mir damals vor wie Vieh, dem das Fressen vorgeworfen wird.
Nur weil uns eine Tante in Pinneberg eine Wohnung garantierte, durften wir irgendwann nach Deutschland ausreisen. Das war eine Höllenfahrt: Der Anblick des zerstörten Dresden, die Tiefflieger, die den Zug beschossen. Wir krabbelten unter die Bänke und hatten Todesangst. Oft stand der Zug, weil Gleise geflickt werden mussten. Es war ungewiss, wann er weiter fahren würde – in ein paar Minuten, Stunden, Tagen? Dazu der Hunger. Einmal bin ich auf ein Gerücht hin in ein Dorf gelaufen, dort sollte es Brot geben. Als ich zurückkam, fuhr der Zug an und ich konnte noch so eben ins letzte Abteil springen. Das war eine der schlimmsten Erfahrungen. Meine Tante hatte in Wahrheit gar keine Wohnung für uns, stattdessen kamen wir in einem Zimmer in einer Baumschule unter.
Die Flucht war für mich ein Abenteuer gewesen, aber als der Hunger kam, war das vorbei. Da habe ich ernst genommen, was mein Vater zum Abschied sagte und organisierte für lange Zeit das Essen: Äpfel klauen, in der Furche Kartoffeln ausbuddeln, solche Sachen. Ende 1949 schlug sich mein Vater nach amerikanischer Gefangenschaft zu uns nach Pinneberg durch. Bald war er unzufrieden. Was sollte er hier als Bergmann anfangen? Er fand Arbeit auf der Zeche in Marl und eine leere Wohnung für uns in Brassert. Aus einem aufgelösten Russenlager haben wir uns Betten geholt und Papierstrohsäcke mit Heu gefüllt, aber die waren verwanzt. Nach und nach konnten wir auch Tisch und Stühle organisieren. Vaters Rationen von Schnaps und Grubenschuhen, konnten wir auf Hamsterfahrten eintauschen. Da bettelte man dann um Kartoffeln. Ein Bauer gab zwei, drei Stück und man lief zum nächsten, bis ein Säckchen voll war. Oder ich ging „Stoppeln“, Körner auf dem gemähten Getreidefeld nachlesen. Das waren schlechte Zeiten. Deshalb kann ich bis heute nix wegwerfen. Hunger prägt.
Fast zwei Jahre lang bin ich nicht zur Schule gegangen. Ich habe es noch einmal probiert, aber wir hatten keine Bücher, keine Hefte. Wenn ich Englisch lernen wollte, musste ich durch die halbe Stadt zu einem Kollegen laufen, um ins Buch zu gucken. Das brachte nichts. Also habe ich eine Lehre als Chemielaborwerker gemacht. Später bin ich Volksschullehrer, dann Sonderschullehrer geworden und habe schließlich die Schule am Westfälischen Landeskrankenhaus geleitet. Für meine Eltern war es immer schwer, in der Fremde zu leben. Sie waren im „Verband heimattreuer Oberschlesier“. Lange glaubten sie, es gehe wieder zurück. Mir war das nach einiger Zeit wurscht. Beuthen war weit weg. Ich hatte in Marl Brassert schnell Freunde gefunden. Protokoll: Gerburgis Sommer
Die beiden Ausstellungen mit 19 Gesichtern einer Flucht werden bis zum 04.11. in der Stadtverwaltung Castrop-Rauxel, vom 23. – 01.11. im Polizeipräsidium Dortmund sowie vom 06. – 10.11. in der Halterner Alexander-Lebenstein-Realschule vor Ort gezeigt. Alle Portraits und Termine auf www.gesichter-einer-flucht.de.
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