Online-Pranger macht junge Menschen krank
LWL-Kinder- und Jugendpsychiater warnen vor der krank machenden Kehrseite von Social Media: Im Internet via SchülerVZ, Facebook oder Twitter breit getretene Streitereien und Konflikte hinterlassen vor allem junge Menschen immer öfter als Opfer von Cybermobbing. Am Selbstwertgefühl nagen negative Online-Nachreden besonders bei jungen Mädchen - bis hin zu Selbstverletzungen und Suizidgedanken.
Auch in der LWL Haard-Klinik zwischen Marl-Sinsen und Haltern werden junge Mobbing-Opfer behandelt. Diplompädagoge Gregor Wittmann und Psychotherapeut Stefan Harnisch aus der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachklinik Marsberg des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) berichten über zunehmende Fälle von Cybermobbing, dessen Krankheitswert und über Möglichkeiten, sich zu schützen.
? Was macht die ‚dunkle Seite‘ von Social Media aus?
Gregor Wittmann: „Die dunkle Seite sind zum Beispiel hemmungslose Beleidigungen oder obszöne Online-Botschaften bis hin zur unverhohlenen Aufforderung, sich etwas anzutun. Die dunkle Seite ist zum Beispiel auch das Mädchen, bei dem die verzweifelte Abwehr ständiger Provokationen und Bloßstellungen aus dem Web derart eskalierte, dass es schließlich mit Polizeibegleitung zu uns in die Kinder- und Jugendpsychiatrie eingeliefert werden musste“.
? Was kann Web 2.0 dafür?
Stefan Harnisch: „Keine Frage: Die neuen Kommunikationskanäle eröffnen neuartige soziale Kontakte sowie viele Lern- und Entfaltungsmöglichkeiten. Aber: Einmal beschritten, ist auf Plattformen wie SchülerVZ, StudiVZ oder Facebook Anonymität passé. Selbst Profis können einmal eingegebene Daten kaum mehr tilgen, der digitale Fingerabdruck bleibt. Zudem können Informationen über Personen auch ohne deren Zutun und Wissen mit wenigen Mausklicks einer großen Öffentlichkeit preis gegeben werden. Eine ideale Bühne also gerade für junge Menschen, unter denen nach unserer Beobachtung die Zurschaustellung von Streitigkeiten, verbalen Vergeltungsfeldzügen oder vermeintlich harmlosen Scherzen zugenommen hat. Unsere jungen Patienten sind fast ausnahmslos in sozialen Netzwerken wie Facebook, online-communities wie SchülerVZ, Instant-Messaging-Programme wie ICQ oder Microbloggings wie twitter virtuell aktiv. Eltern, Lehrer und andere Vertrauenspersonen bleiben zumeist ahnungslos. Bei SchülerVZ bleiben alle über 21 Jahre per Altersbegrenzung ausgeschlossen.“
? Anmache und pubertäres Geplänkel gibt‘s doch seit jeher in jedem Klassenverband oder Semesterjahrgang. Wo ist der Unterschied?
Gregor Wittmann: „In den herkömmlichen sozialen Umfeldern gibt es Sicherungen, also Regeln und Personen, die eine Kontroll- und Reglementierungsfunktion gegen Übergriffe haben. Im Internet gibt es das so nicht. Ein Grund, warum gerade jungen ‚Tätern‘ die Folgen von Schmähungen für ihre Opfer kaum bewusst sind. So ist auch kaum Schuldbewusstsein dafür da, dass Streitigkeiten und Verbalattacken, die früher im Klassenzimmer oder auf dem Schulhof blieben, sich nun zum Cybermobbing auswachsen und vom gesamten Online-Netzwerk der Betroffenen wahrgenommen werden können. Die Opfer sehen sich vor aller Welt an den Pranger gestellt. Cybermobbende Jugendliche vermuten sich in einem vermeintlich anonymen, ja quasi rechtsfreien Raum, notfalls verschleiert ein Tarnname oder ein Scheinprofil ihre wahre Identität. Indes stellen wir neuerdings einen Trend fest, ganz offen und ungehemmt beleidigende und entwürdigende Botschaften über andere Jugendliche in den jeweiligen Communities zu platzieren. Das alles begründet die neue Problemdimension, mit der wir es hier zu tun haben.“
? Und wie macht sich das bei betroffenen jugendlichen Opfern bemerkbar?
Stefan Harnisch: „Seit einigen Jahren beobachten wir mit steigender Tendenz, dass Patienten in unsere Aufnahme kommen, die über Chatmobbing, Cyberbullying oder Cybermobbing berichten mit tiefgreifender Störung ihrer Persönlichkeitsentwicklung. Vor allem bei jungen Mädchen verstärken solche Web-Erfahrungen emotionale Probleme des Jugendalters, depressive Episoden, Stimmungsschwankungen, auch selbstverletzendes Verhalten, Ängste und sozialen Rückzug bis hin zur Desintegration. Schulversagen, Isolation und sozialer Rückzug gehen vielfach mit Drogen- oder Alkoholmissbrauch einher. Und häufig löst das Opfer mit seiner Aggressionsabfuhr, etwa mit Drohungen wiederum über das Internet, weitere eskalierende Situationen aus, wie das eingangs genannte Beispiel mit der Polizeieinschaltung zeigt.“
? Gibt es Abhilfe?
Gregor Wittmann: „Eltern, Schulen, soziale Dienste und andere Institutionen müssen die Entwicklung unbedingt ernst nehmen und dürfen sie nicht aus Unwissenheit bagatellisieren. Es gilt Öffentlichkeit herzustellen und Aufklärung zu betreiben über das Phänomen Cybermobbing. Oftmals von Scham geplagte Jugendliche brauchen Hilfe und Stabilisierung bei der Bildung eines respektvollen und klaren Konfliktmanagements und einer ausreichenden Stresstoleranz.“
Hintergrund: Studien besagen: Am Cybermobbing ist inzwischen in Deutschland jeder fünfte Jugendliche beteiligt - sei es als Täter, als Opfer oder als so genanntes Täteropfer, das sowohl Leidtragender als auch Urheber von Online-Bloßstellungen ist. Eine Befragung im Jahr 2007 ergab: 34 Prozent aller von Cyber-Mobbing Betroffenen sind Schülerinnen und Schüler. Die Dunkelziffer gilt als hoch. Mehr Infos u.a. unter http://www.klicksafe.de.
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