Interview: Eltern werden ist nicht schwer, Eltern sein dagegen sehr ...
„Ich weiß einfach nicht mehr weiter. Ich habe das Gefühl, ich mache alles falsch!“ Diesen Satz hört Ilona Betker, Marte Meo-Therapeutin in der LWL-Klinik Marl-Sinsen häufig. Wenn Kinder auffällig werden, etwa weil sie sich nicht an Regeln halten, aggressiv sind oder eine psychische Erkrankung vorliegt, suchen viele Eltern die Schuld bei sich und in ihrer Erziehung.
In der Marler Klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) erhalten Eltern und Kinder in dieser Situation Hilfe. „Marte Meo“, ein spezielles videogestütztes Coaching hilft, Selbstvertrauen zu stärken und Erziehungskompetenz zu fördern. Seinem lateinischen Ursprung nach bedeutet Marte Meo sinngemäß „etwas aus eigener Kraft erreichen“.
1.Wie kann „Marte Meo“ helfen, Selbstvertrauen aufzubauen und Erziehungskompetenz zu fördern?
Betker: „Das erkläre ich am besten an einem Beispiel. Vor einiger Zeit kamen die Eltern eines neunjährigen Jungen zu uns in die Klinik. Paul (Name geändert) hatte Probleme, Anschluss an Gleichaltrige zu finden. In der Schule blieb er oft für sich, fühlte sich sogar gemobbt. Zu Hause zeigte sich der Junge sehr verschlossen. Die Beziehung zu seinen Eltern war von Spannungen geprägt. Pauls Eltern berichteten von vielen Streitigkeiten und Tränen. Ein normales Gespräch war schon lange nicht mehr möglich. Beide Elternteile hatten das Gefühl, ihr Kind überhaupt nicht mehr zu erreichen, in ihrer Kommunikation und Erziehung völlig zu versagen. Durch das Marte Meo Coaching, das wir mit Ihnen durchgeführt haben, fokussieren Pauls Eltern, nicht länger was alles nicht gelingt, sondern was in der Kommunikation mit ihrem Sohn gut läuft. So erlangen beide Eltern neues Selbstvertrauen in ihre Erziehungsfähigkeiten und können sich gemeinsam mit ihrem Kind weiterentwickeln.“
2.Wie sieht die praktische Umsetzung des Coachings aus?
Betker: „Die Grundlage für eine erfolgreiche Arbeit nach dem Marte Meo-Coaching ist, dass beide Elternteile die positiven Aspekte in ihrer Kommunikation mit eigenen Augen sehen können. Und positive Anteile gibt es in jeder Kommunikation. Man muss sie nur finden. Hierzu filmen wir ganz normale Alltagssituationen innerhalb der Familien wie zum Beispiel ein gemeinsames Mittagessen. Anschließen analysieren wir die Bilder und zeigen den Eltern genau, wann sie gut agieren und wie Paul reagiert. Diese Erkenntnis, dass sie etwas gut machen, löst oft schon eine große Erleichterung bei den Beteiligten aus. Anschließend besprechen wir gemeinsam, welche Elemente des Marte Meos bis zum nächsten Treffen weiter geübt werden sollen. Das kann zum Beispiel die Benennung eigener Handlungen oder solcher des Kindes sein. Im nächsten Treffen sehen wir uns die Fortschritte in der Kommunikation mittels Videoaufnahme an und entwickeln weitere Ziele. Auf diesem Weg können wir erfolgreiche Verhaltensweisen für eine gelungene Kommunikation Stück für Stück trainieren und die Eltern haben die Möglichkeit, ihre Fortschritte wirklich mit eigenen Augen sehen. So werden vorher unlösbar erscheinende Zustände plötzlich beherrschbar und vormals verunsicherte Elternteile bekommen das Gefühl, dass sie durch ihr Verhalten eine Veränderung erreichen können. Das motiviert und schafft Selbstvertrauen.“
3.Kann „Marte Meo“ Paul helfen, soziale Kontakte zu knüpfen?
Betker: „Ja, dazu filmen wir Paul in einer alltäglichen Situation, zum Beispiel beim Spielen mit anderen Kindern. Das Video zeigt uns, wie sich Paul verhält, wie er kommuniziert, was schon gut klappt und auch wo noch Entwicklung nötig ist.“
4.Sie sprechen von noch nicht gemachter Entwicklung und nicht von Defiziten?
Betker: „Genau, denn „Marte Meo“ besagt, dass es keine Defizite gibt, sondern dass bestimmte Entwicklungsschritte noch ausstehen. Bei Paul wurde deutlich, dass er noch lernen muss, für andere Kinder einschätzbarer zu werden. Paul hat zum Beispiel nie gesagt, was oder womit er als nächstes spielen möchte. Er hat sich einfach ein Spielzeug genommen oder ist aufgestanden und weggegangen ohne etwas zu sagen und genauso unvermittelt zurück gekommen. So konnten die anderen Kinder Pauls Verhalten schwer einschätzen und der Kontakt brach oftmals ab.“
5.Und wie konnten sie hier eine Veränderung bewirken?
Betker: „Wir haben in unserem Videotraining genau beobachtet, wann Paul in einer konstruktiven Weise Kontakt zu seinen Mitspielern aufgenommen hat, zum Beispiel in dem er Augenkontakt hergestellt oder eine Handlung angekündigt hat. Diese Sequenzen haben wir ihm gezeigt und gemeinsam mit ihm die positiven Reaktionen der anderen Kinder beobachtet. Dieses „Sehen“ und „Erkennen“ hat Paul motiviert, mit uns gemeinsam daran zu arbeiten, diese Verhaltensweisen zu intensivieren.“
6.Wie können Pauls Eltern seine positive Entwicklung fördern?
Betker: „Hierzu schauen wir gemeinsam mittels Videoaufzeichnung nach positiven Verhaltensweisen ihres Sohnes in der gemeinsamen Kommunikation mit ihnen. Dann zeigen wir den Eltern wie sie diese fördern können. Das klappt zum Beispiel, indem sie nicht nur wie bereits beschrieben das eigene Tun benennen, sondern auch Pauls Handlungen kommentieren, zum Beispiel so: „Ich sehe, du hast aufgegessen. Dann können wir jetzt den Tisch abräumen“. Auf diese Weise gewöhnt sich Paul nach und nach daran zu sagen, was er gerade macht. Das klappt dann auch beim Spielen und macht ihn für seine Spielpartner einschätzbarer.“
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