Inhaltsleerer Ein-Themen-Wahlkampf
Wie schamlos sind unsere Volksvertreter? Was in der „historischen Bundestagsdebatte“ von allen Parteien ausgeblendet und verdrängt wurde

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Foto: Demo gegen Rechts nach der aktuellen Bundestagsdebatte
Ablenkungsmanöver von den eigentlichen Problemen, Sorgen und Nöten der Menschen
im reichen Land der Suppenküchen und Tafeln, der Kinder- und Altersarmut, der Wohnungsnot und des Bildungsnotstandes sowie der sozialen Ungerechtigkeit und der kaputten Infrastruktur
Es ist erfreulich, dass nun bundesweit zigtausende Menschen auf die Straße gehen, um gegen den demokratischen Tabubruch des parlamentarischen Rechtsbündnisses von CDU/CSU/FDP mit der AfD zu protestieren. Wer jedoch die Bundestagsdebatten am 29. und 31. Januar verfolgt hat, dem ist noch manches andere aufgefallen: Zwar haben alle Parteienvertreter ihre Betroffenheit und Empörung über eine Reihe entsetzlicher Taten von Psychopathen, Islamisten und Terroristen als migrantische Einzeltäter zum Ausdruck gebracht, nachdem zuletzt in Aschaffenburg sogar ein zweijähriges Kind getötet wurde. Die Sicherheit nicht zuletzt der Kinder ist nun ein erklärtes Herzensanliegen aller Parteipolitiker und der Gesellschaft, wenn man den empathischen Reden Glauben schenkt.
Doch ist damit gerechtfertigt, dass sich daraufhin der gesamte Wahlkampf und die Regierungsprogramme auf das alleinige Thema Zuwanderungsbegrenzung und Sicherheit als „Mutter aller Probleme“ reduzieren und alle anderen Themenfelder und Sicherheitsbedrohungen ausgeblendet oder verdrängt werden? Obwohl die Gefährdung von Sicherheit (insbesondere sozialer Sicherheit), von Demokratie und Kindeswohl in viel empörenderem Ausmaß auf ganz vielen Politikfeldern vorliegt. Es liegen damit zahlreiche Indizien für ein Totalversagen aller Parteien in den letzten Jahrzehnten vor, die diese und andere Missstände politisch mit zu verantworten haben.
Wer es unseren Volksvertretern abnimmt, dass sie über alle Parteigrenzen hinweg jetzt lautstark „ein Herz für Kinder“ und deren Sicherheit und Zukunft entdeckt haben, der sollte sich die nachfolgend aufgeführten politischen Versäumnisse und Defizite zu Gemüte führen, die eine ganz andere Ausrichtung des Wahlkampfes und der künftigen Regierungspolitik erfordern statt eine Verbrüderung mit Rechtsaußen. Die sozialen Probleme werden nicht dadurch gelöst, dass man gemeinsam die Zuwanderer bekämpft, die allein im letzten Jahr 281 politisch motivierte Angriffe auf Flüchtlingsheime durch deutsche Straftäter erleiden mussten.
„Parteien der Mitte“ scheren sich nicht um gemeinsame Beseitigung steigender Armut
Zwei Wochen vor der „historischen Bundestagsdebatte“ veröffentlichte die Nationale Armutskonferenz am 15. Januar den „Schattenbericht Armut in Deutschland“ mit erschreckenden Zahlen, auf den es so gut wie keine Reaktionen der wahlkämpfenden „Parteien der Mitte“ gab, die wieder einmal mit sich selber und ihren wahltaktischen Ränkespielen beschäftigt waren. Der eigentlich fällige offizielle Armutsbericht der Regierung wurde wegen des Wahlkampfes diesmal nicht veröffentlicht, weil dessen erschreckende Fakten die Regierungs- und Oppositionsparteien bloßgestellt hätten? Haben deren Abgeordnete nicht einen Eid auf das Wohl des Volkes geleistet? Bei den aktuellen Zahlen wird es einem unwohl:
- Fast 18 Millionen Menschen in Deutschland, ein Fünftel der Bevölkerung. darunter mehr als 4 Mio. Kinder, sind von Armut und damit von sozialer Ausgrenzung und Stigmatisierung bedroht, mit der Folge von durchschnittlich 8 bis 10 Jahren verkürzter Lebensdauer und erhöhten Gesundheitsrisiken (Quelle: Deutsches Ärzteblatt). Fast 6 Mio. von ihnen sind sogar von erheblicher materieller und sozialer Entbehrung betroffen und sind deshalb in Überschuldung geraten, wie das Robert-Koch-Institut ermittelte, obwohl nach Artikel 22 der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte jeder Mensch als Mitglied der Gesellschaft Anspruch auf soziale Sicherheit hat.
- Über 600.000 Menschen sind wohnungslos, zigtausende obdachlos mit steigender Zahl, und diejenigen, die eine (oft zu kleine) Wohnung haben, können die steigenden Mieten und Nebenkosten nicht mehr zahlen, die bereits ein Drittel bis zur Hälfte des Einkommens verschlingen. Bei jedem vierten Mieter übersteigen die Mieten die finanziellen Möglichkeiten: Wohnen gilt als Armutsrisiko Nr. 1 wegen ungebremsten Mietenwahnsinns und Mietwuchers. Nach Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hat jedoch jeder Mensch Anspruch auf Wohlfahrt und auf eine Wohnung. Unser Grundgesetz beruft sich auf die Menschenrechte.
Stellen Politiker ihre Ohren auf „Durchzug“ und verschließen die Augen?
Stellen sich die „Parteien der Mitte“ gemeinsam diesen gewaltigen Herausforderungen und führen sie dazu heftige Bundestagsdebatten? Erst im Dezember wurde Deutschland vom Europarat angemahnt, dass es mehr tun müsse gegen soziale Ungerechtigkeit und für Menschenrechte und Kinderrechte. Doch Parteien wie die CDU und FDP kündigen im Wahlkampf stattdessen Sozialabbau an und zudem Steuererleichterungen für Einkommensstarke und Reiche, sowie Erhöhung der Rüstungsausgaben von derzeit 72 Mrd. € auf 3,5% bis 5% des Bruttosozialproduktes, also auf fast die Häfte des Bundeshaushaltes.
Auch der Appell vom „Ratschlag Kinderarmut“, die Politik solle Haltung zeigen und sich unterstützend hinter armutsbetroffene Kinder, Jugendliche und Familien stellen, verhallte ebenso ungehört wie die eindringlichen Mahnungen von Sozialverbänden, Menschenrechtsorganisationen und Wissenschafts-Instituten: „Deutschlands Zukunft kann nur mit sozialer Gerechtigkeit bewältigt werden“. Stattdessen klafft die Schere zwischen Arm und Reich seit 30 Jahren unter den verschiedensten Regierungskoalitionen in Deutschland immer weiter auseinander, womit das Abdriften der enttäuschten Wähler zu rechtspopulistischen Parteien verstärkt wird, wie Forschungen belegen.
>>> siehe hierzu im Lokalkompass:
https://www.lokalkompass.de/haltern/c-politik/der-irrweg-der-demokratischen-parteien-nach-den-trugschluessen-aus-den-juengsten-wahldesastern_a1990070
Bei den Wählerinnen und Wählern auf der sozialen Verliererseite entsteht dieser Eindruck: Schamlose Politiker, die selber bestens versorgt sind, nehmen achselzuckend in Kauf, dass in einem reichen Land die Zahl der Tafelbesucher um 500.000 auf 2 Mio. angestiegen ist, dass jeder fünfte Rentner nach 45 Arbeitsjahren unter 1.200 € Monatsrente erhält und sich zur Armenspeisung begeben oder in Mülltonnen wühlen muss, derweil Abgeordnete bereits nach zwei Wahlperioden von 8 Jahren die doppelte Altersversorgung von 2118 € erhalten, ohne in die Rentenkasse einzuzahlen. Zu dieser Frage eines Zuschauers schwiegen die 8 Spitzenpolitiker aller Parteien betreten in der (misslungenen) ZDF-Wahlsendung am 28. Januar: "Wie geht es Deutschland?"
Warum erst jetzt der Aufschrei im Bundestag bei Tötungsdelikten?
Eine derart heftige Debatte im Bundestag wie jetzt anlässlich der erschütternden Tötungsdelikte durch migrantische Straftäter hätte man sich schön längst in früheren Bundestagssitzungen auch mit Blick auf die vielen deutschen Straftäter gewünscht, die z.B Flüchtlingsheime mit darin lebenden Kindern angezündet haben, aber auch mit Blick auf alle anderen Gefährdungen und Vernachlässigungen von Kindern in Deutschland:
- Jährlich fallen im Durchschnitt 27 Kinder pro Jahr in Deutschland einem Mord zum Opfer, wie die Statistik der letzten 10 Jahre zeigt (Quelle: Statista), und zwar überwiegend von deutschen Tätern.
- 221 Kinder und Jugendliche zwischen 16 und 19 Jahren nehmen sich jährlich in Deutschland durch Suizid das Leben, das sind 2-3 % der Minderjährigen und ist die häufigste Todesursache bei Kindern und Jugendlichen (Quelle: Statistisches Bundesamt).
- In Deutschland werden jährlich 40 bis 50 Kinder bei Verkehrsunfällen getötet oder bei den jährlich 20.000 Verkehrsunfällen mit Kindern verletzt, darunter 2.000 Kinder zwischen 6 und 10 Jahren (Quelle: Verkehrswacht). Der Eindämmung von Verkehrsunfällen durch Geschwindigkeitsbegrenzungen in Städten sowie auf Landstraßen und Autobahnen, wie in allen anderen Ländern Europas, widersetzen sich die politischen Auto-Lobbyisten, (allen voran Porschefahrer Christian Lindner/FDP mit Rennfahrerlizenz). Auch eine Nullgrenze bei Alkohol und Drogen am Steuer, wie vom deutschen Verkehrsgerichtstag im Januar gefordert, widersetzen sich bislang die Politiker.
- Unter den jährlich 70.000 Todesfällen in Deutschland durch Luftverschmutzung durch Feinstaub (und 28.000 durch Dieselabgase) sind auch zahlreiche Kinder(Quelle: Umwelthilfe), denn zu den gesundheitlichen Auswirkungen von Luftverschmutzung gehören Frühgeburten, ein niedriges Geburtsgewicht, Asthma und Lungenerkrankungen, die mit weltweit mehr als 700.000 Todesfällen bei Kindern unter fünf Jahren in Verbindung gebracht werden (Quelle: UNICEF). Eine andere Studie geht von täglich fast 2.000 Todesfällen weltweit von Kindern durch Luftverschmutzung aus (Quelle: Ärzteblatt).
- Jeden Tag werden in Deutschland 54 Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht (plus Dunkelziffer), das ist ein Anstieg um 5,5% (Quelle: BKA). Allein bei der katholischen Kirche summieren sich die Fälle auf 114.000 Opfer mit Dunkelziffer (Quelle. Katholischer Nachrichtendienst); die evangelische Kirche spricht von 2.200 Opfern.
- 32.000 Kinder in Deutschland leben obdachlos auf der Straße ohne ihre Eltern, 4.000 alllein in Berlin; weltweit 300 Mio. Kinder (Quelle: Tagessppiegel/parlamentarische Anfrage)
- Fast jedes 6. Schulkind in Deutschland ist von Mobbing betroffen, das sind 7% aller Schülerinnen und Schüler. (Quelle. Techniker-Krankenkasse und Statista/YouGov) und über 47.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland sind ohne Schulabschluss(Quelle: Bertelsmann-Stiftung).
- 600.000 Kinder in Deutschland leiden unter Mediensucht und sind abhängig von Computerspielen und sozialen Medien; insgesamt 2,2 Mio. Kinder und Jugendliche sind gefährdet oder bereits auf dem Weg in die Abhängigkeit (Quelle: Gefährdungsatlas der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien).
- Viele Kinder verlieren ihre Mutter, denn alle 4 Minuten erlebt eine Frau in Deutschland häusliche Gewalt von Partnern und Ex-Partnern (somit auch Vätern), die in 100 bis 150 Tötungsdelikten jährlich münden, bei insgesamt 180.000 Gewaltopfern.(Quelle BMI). Dennoch wurden die Fördermittel für Frauenhäuser gekürzt oder reichen nicht aus.
Eine „andere Politik“ ist wahrlich nötig - über den nationalen Egoismus hinaus
- 80 % der Jugendlichen sorgen sich stark um ihre Zukunft, besonders mit Blick auf die Klimaveränderungen weltweit. Das ergab eine Studie der Bertelsmann Stiftung mit Befragung der Jugendlichen im Alter von 12 bis 18 Jahren. 42 Prozent waren sogar sehr besorgt. Dennoch tritt im laufenden Wahlkampf das Thema der Klimapolitik immer stärker in den Hintergrund und die politischen Forderungen und Maßnahmen gehen eher in Richtung Verschiebung oder Reduzierung von Klimaschutzmaßnahmen und -zielen. Die Klimakatastrophe scheint somit unaufhaltsam, denn Klimaleugner oder -verdränger gibt es offenbar nicht nur in der AfD.
Alles das wären dankbare Wahlkampfthemen und Herausforderungen für Problem- und Lösungsorientierte Debatten im Bundestag zwischen den demokratischen "Parteien der Mitte", die aber im Wahlkampf untergehen. Ebenso bedürfen die nachfolgenden Probleme und Skandale dringend der politischen Aufmerksamkeit: und Kursänderung in Richtung einer „anderen Politik“, von der im Bundestag so viel die (Fenster-) Rede war. Eine solche Politik muss über den nationalen Egoismus hinausreichen, denn unser Land steht im Kontext der Weltpolitik, wie nachfolgend aufgezeigt.
Politik für das 21. Jahrhundert – Ein Herz für Kinder oder eine verlorene Generation?
- Über 43 Millionen Kinder sind laut UNICEF weltweit auf der Flucht aus Kriegs- und Krisengebieten, doppelt so viele wie noch vor 10 Jahren, denen nun fast überall die letzten Türen an den Grenzen verschlossen werden, so auch in Deutschland und Europa. Über die von deutschen Politikern versprochene, aber ausgebliebene „Bekämpfung der Fluchtursachen“ spricht fast niemand mehr.
- Stattdessen liefert Deutschland über seine Rüstungskonzerne direkt und indirekt Kleinfeuerwaffen in die Kriegsgebiete, auch an die weltweit 250.000 bis 300.000 Kindersoldaten, wie von der UN-Flüchtlingshilfe und von „Brot für die Welt“ beklagt. Anstatt die Rüstungsexportkontrolle zu verschärfen, wurde sie gelockert und die Rüstungsexporte wurden auf Höchstniveau heraufgefahren und die deutsche „Kriegstüchtigkeit“ wird beschworen mit 6-stelligen Rüstungsausgaben. Weltweite Bundeswehreinsätze werden verstärkt angestrebt, nachdem der 20-jährige deutsche Einsatz in Afghanistan mit 59 gestorbenen Bundeswehrsoldaten gerade als komplett gescheitert bilanziert wurde.
- Jede Woche werden laut UNICEF-Kinderhilfswerk im Ukraine-Krieg 16 Kinder getötet, insgesamt wurden bisher 600 Kinder ermordet und 1.700 verletzt. Die Zahl der im Ukraine-Krieg getöteten Kinder ist um fast 40% gestiegen; allein im 1. Quartal 2024 wurden 25 Kinder getötet, das jüngste 2 Jahre alt. Die politischen Friedensbemühungen von deutscher Seite lassen zu wünschen übrig.
- Im Gaza-Krieg sind 70% der Todesopfer Kinder und Frauen, vor allem Kinder zwischen 5 bis 9 Jahren. Insgesamt wurden 43.000 Palästinenser getötet, auch mit deutschen Waffen.
- 45 Mio. Kinder unter 5 Jahren leiden weltweit an Unterernährung oder Auszehrung, sie sind Opfer von Hungersnot, Mangelernährung und Ernährungskrise. (Quelle: Welthungerhilfe/UNICEF). Dennoch werden die Mittel für Entwicklungshilfe im deutschen Haushalt zusammengestrichen. Weltweit sinken die Mittel für das Welternährungsprogramm zugunsten der Militärausgaben.
Es ist wichtig, dass nicht allein die politischen Parteien die Themen und Prioritäten für den Wahlkampf und die künftige Regierungspolitik und Haushaltspolitik bestimmen und vorgeben, sondern wir als Souverän in diesem (noch) demokratischen Staat ein Wörtchen mitreden, denn „Politik ohne Bürgerbeteiligung ist möglich, aber sinnlos und erfolglos.“
Demokratie findet nicht nur im Plenarsaal statt, sondern auch auf der Straße. Die Themen der Demonstrationen sollten deshalb erweitert werden auf konkrete Zukunftsforderungen, denn nicht nur bei den Rechtsradikalen der AfD, sondern auch bei den etablierten Parteien breitet sich die Ignoranz gegenüber den eigentlichen Bedürfnissen und Anliegen der Bürgerinnen und Bürger und den politischen Erfordernissen in diesen sozialen und ökologischen sowie kriegerischen Katastrophenzeiten aus.
Wilhelm Neurohr, 02. Februar 2025
>>> Siehe auch vorherigen Beitrag im Lokalkompass unter:
https://www.lokalkompass.de/haltern/c-politik/wie-schamlos-sind-unsere-volksvertreter-was-in-der-historischen-bundestagsdebatte-von-allen-parteien-ausgeblendet-und-verdraengt-wurde_a2020632
Autor:Wilhelm Neurohr aus Haltern | |
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