Landtagswahl am 15. Mai 2022
Manipulationsvorwurf: Verschafft sich eine Partei Vorteile mit dem neuen Wahlkreiszuschnitt?

HALTERN AM SEE. Einen Monat vor dem Landtags-Wahltermin gehen die aktuellen Umfragen derzeit von einem Kopf-an Kopf-Rennen zwischen SPD und CDU in NRW aus: Beiden Parteien werden aktuell um die 30% vorausgesagt. Seit dem Rücktrittsskandal der CDU-Umweltministerin herrscht also annähernd Gleichstand zwischen den größten Parteien. Um dennoch ihre Besitzstände zu bewahren, hatte bereits im vorigen Jahr die Regierungskoalition aus CDU und FDP gegen die Stimmen der SPD vorbeugend die Landtags-Wahlkreise in NRW neu zugeschnitten, so auch im jetzigen Wahlkreis „Recklinghausen III“ mit Haltern und Dorsten zuzüglich Marl-Polsum und Datteln-Ahsen.

Haltern und ganz Dorsten bilden also jetzt einen Wahlkreis, „so dass sich vor allem eine Partei bessere Chancen ausrechnen kann“, so schrieb die Dorstener Zeitung am 03. Februar 2022. Die Grünen in NRW kritisierten schon 2021: Bei einzelnen Wahlkreisen im Münsterland bestehe der Verdacht, dass sich die Regierungspartei CDU durch den Neuzuschnitt Vorteile verschaffen wolle und zusätzlich die Anzahl ihrer  Abgeordneten damit erhöhe. Besonders auffällig war dies nebst Ostwestfalen vor allem in Münster, im Kreis Coesfeld und im nördlichen Kreis Recklinghausen mit Haltern.

„Ein Schelm wer böses dabei denkt“

„Ein Schelm, wer böses dabei denkt“, kommentierte der damalige Halterner SPD-Vorsitzende Dr. Steffan Cassone bereits am 13. September 2019. Denn es war der Halterner CDU-Landtagsabgeordnete Josef Hovenjürgen, zugleich auch Generalsekretär der NRW-CDU, der den neuen Zuschnitt der Landtagswahlkreise vorgeschlagen hatte – „völlig uneigennützig“, wie er behauptete.

Im Blickpunkt: Der Wahlkreis Haltern

Vor allem hatte er dabei "seinen" eigenen, nämlich den damaligen Wahlkreis 72 im Blick. Diesen hatte er zuvor im Wahljahr 2012 - nach schweren Wahlverlusten der CDU in NRW und auch in Haltern mit Minus 5, 5% - an den SPD-Herausforderer Peter Müller aus Oer-Erkenschwick verloren. Dieser ließ mit errungenen 42,7% die CDU mit 34,3% hinter sich, die bei den Zweitstimmen in Haltern sogar 9% verlor. Das dürfte in dem angestammten CDU-Wahlkreis kein zweites Mal passieren, so die Reaktion in der Landes-CDU.

Simsalabim: SPD-Hochburgen gegen CDU-Hochburgen ausgetauscht

Damals gehörten noch die Bergbaustadt Oer-Erkenschwick mit starker SPD-Basis sowie Teile von Dorsten und Datteln zu dem Halterner Landtagswahlkreis 72 („Recklinghausen IV“). Auch der zugehörige Dorstener Ortsteil Wulfen-Barkenberg und die Marler Stadtteile Hüls-Süd und Sinsen-Lenkerbeck waren keine CDU-Hochburgen, sondern hier erzielte die SPD traditionell zwischen 40 bis 50 %. Deshalb sollte nach Hovenjürgens Vorstellungen die Stadt Haltern am See stattdessen künftig mit Dorsten und Marl-Polsum sowie Datteln-Ahsen zu seinem Wahlkreis gehören – allesamt „tief schwarze“ Stadtteile mit bislang über 40% bis 50% für die CDU.

Unfairer Startvorteil bei der Landtagswahl 2022?

Mit diesem Austausch der zum Wahlkreis gehörigen Ortsteile hatte sich Josef Hovenjürgen (mit Hilfe seines CDU-Innenministers und der Mehrheit im Landeswahlausschuss) gegen alle Widerstände einen „todsicheren“ CDU-Wahlkreis clever zugeschnitten, der kaum noch verloren gehen kann. Mit diesem unfairen Startvorteil geht er nun in die bevorstehende Landtagswahl 2022, wie es die aufgeklärte Wählerschaft als Hintergrund wissen sollte.

Comedy-Preis für absurde Begründung?

Die vorgeschobene Begründung von Josef Hovenjürgen für den per Neuzuschnitt passend gemachten Halterner Wahlkreis war ein angeblicher „Flickenteppich“ sowie vorherige „Irritationen“ für Menschen und Institutionen, ihn als „richtigen Ansprechpartner“ im Landtag zu finden. Für diese Aussage wollte der Halterner SPD-Vorsitzende Dr. Cassone dem CDU-Generalsekretär Hovenjürgen einen „Comedy-Preis“ verleihen, wie im „Lokalkompass“ vom 13. September 2019 nachzulesen.

Die offizielle Begründung der damaligen Landesregierung

Die offizielle Begründung für den Beschluss des Landeswahlausschusses NRW und des CDU-Innenministers (und vormaligen CDU-Generalsekretärs)  für die Novellierung des Landeswahlgesetzes lautete: Die 128 Stimmbezirke im Land sollen nicht mehr nach der Einwohnerzahl, sondern nach der Zahl der dort wohnenden Wahlberechtigten eingeteilt werden. Denn es gebe starke Abweichungen aufgrund der Entwicklung der Bevölkerungszahlen in NRW in zweistelliger Prozentzahl.

Empfehlung des Verfassungsgerichtes NRW ins Gegenteil verkehrt

Diese Entscheidung stand jedoch im Widerspruch zu einem Urteil des Verfassungsgerichtes NRW vom 20. Dezember 2019, das genau umgekehrt die Neuordnung der Wahlkreise anhand der Einwohnerzahl statt an der Zahl der Wahlberechtigten vorgeschlagen hatte. Doch das hätte der CDU keine Vorteile beim neuen Wahlkreiszuschnitt gebracht, wie Kritiker damals vorwarfen.

Scharfe Kritik auch aus dem Kreis Coesfeld

Die durchschaubaren parteipolitischen Absichten der Wahlkreis-Neuordnung durch die Landes-CDU stieß im September 2019 auch im Kreis Coesfeld auf harsche Kritik der SPD und sogar der in Düsseldorf mitregierenden FDP zumindest vor Ort. Selbst CDU-Landtagsabgeordnete aus dem Kreis Coesfeld waren nicht einverstanden, da die parteitaktischen Planspiele sogar die Kreisgrenzen zunächst unbeachtet ließen und einzelne Orte zu drei verschiedenen Landtagswahlkreisen zugeordnet werden sollten. Deshalb setzten sie sich für alternative Lösungen ein und schimpften über die „Flickschusterei angeknabberter Kreise“ - eine Ohrfeige auch für den CDU-Generalsekretär und den CDU-Innenminister mit ihren raffiniert ausgeklügelten  Strategien.

Beitrag zur Parteien- und Wahlverdrossenheit in zerbrechlicher Demokratie?

Wer unsere Demokratie und die mündigen Wählerinnen und Wähler ernst nimmt, sollte alles vermeiden, was zu weiterer Parteien- und Wahlverdrossenheit und zur Demokratiemüdigkeit beiträgt. Eine vertrauensbildende Maßnahme zur Demokratieförderung war der parteitaktisch motivierte Neuzuschnitt der Landtagswahlkreise in NRW jedenfalls nicht. Im Gegenteil wird das Misstrauen damit verstärkt und die Wahlbeteiligung verringert.

Osteuropäisches Demokratieverständnis als Vorbild?

Derartige Ansätze quasi zur versuchten Wahlmanipulation schon im Vorfeld über gezielte Wahlkreisveränderungen zugunsten bestimmter Mehrheitsverhältnisse gab es bislang eher in osteuropäischen Staaten mit Demokratiedefiziten und führten zu Rügen von Wahlbeobachtern.

Noch ein politischer Skandal in NRW?

Bei dieser Landtagswahl 2022 in NRW stehen die parteipolitischen Akteure deshalb ebenfalls unter besonderer Beobachtung durch die kritische Wählerschaft – denn noch einen politischen Skandal kann NRW in Krisenzeiten kaum gebrauchen, erst recht nicht unsere zerbrechliche Demokratie. 

Hat NRW nichts Besseres verdient?

Es ist schon eine Zumutung für die Wählerinnen und Wähler, mit Hendrik Wüst einen Spitzenkandidaten für das Ministerpräsidentenamt  angeboten zu bekommen, der wegen dreifacher Skandale (und der Bespitzelung der SPD- Gegenkandidatin) als damaliger CDU-Generalsekretär zurücktreten musste und sich nebenher als Wirtschaftslobbyist für den Verlegerverband (und vorher für den skandalumwitterten Lobbyverband Eutop)  ein Zubrot verdiente - woran am 9. April 2022 die WDR-Kabarettsendung "Mitternachtsspitzen" vor Millionenpublikum nochmals erinnerte... Hat NRW nichts Besseres  verdient?

Wilhelm Neurohr, 14. April 2022

Autor:

Wilhelm Neurohr aus Haltern

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