„Erdüberlastungstag“ am 4. Mai 2023
Kommunale Wohnungsbaupolitik: Was die Stadt Haltern von der Stadt Münster lernen kann

Foto: PlanRadar/Stadtplanung

HALTERN AM SEE. Am heutigen „Erdüberlastungstag“ wären die für dieses Jahr verfügbaren natürlichen Ressourcen bereits verbraucht, wenn alle Menschen so leben und bauen würden wie in Deutschland und hier vor Ort in Haltern. Deshalb sollte man auch aus Haltern auf diejenigen Kommunen blicken, die zur Deckung des hohen Wohnbedarfs mitsamt Infrastruktur einen nachhaltigen Lösungsweg einschlagen und beim Flächenverbrauch die „Reißleine ziehen“. Dies dient der Ressourcenschonung, dem Klimaschutz, der Bekämpfung des Wohnungsmangels und zugleich der Dämpfung der immer höheren Grundstückspreise. Die neuen Bodenrichtwerte für die Stadt Haltern offenbaren dagegen einen ungebrochenen Trend nach oben bis zu 570 € je qm (Anstieg in 7 Jahren um 80%) und bezahlbarer Wohnraum wird immer mehr zur Mangelware, derweil immer mehr Freiflächen allein für Einfamilienhausbau verbraucht werden.

Wieder ist es die vorbildliche Stadt Münster mit ihren vielen dörflichen Stadtteilen (und ähnlich hohen Grundstückspreisen wie in Haltern), die aktuell per Ratsbeschluss eine flächensparende und bedarfsgerechte Wohnungsbaupolitik im Rahmen klimagerechter Bauleitplanung eingeleitet hat: Der Bau frei stehender Einfamilienhäuser soll zwar nicht verboten werden, aber in Zukunft zur Ausnahme werden, um effizientere und bezahlbare Wohnformen zu ermöglichen. Um den ineffizienten Flächenverbrauch zu senken, hat der Rat für Münster das Ziel von 55 Wohneinheiten pro Hektar beschlossen.

Dort sind auch vor dem Hintergrund der hohen Baupreise freistehende Einfamilienhäuser auf dem Rückzug und haben nur noch eine untergeordnete Bedeutung „in besonderen Lagen“. Mehrfamilienhäuser sollen die Regel werden. Davon ist Haltern als Negativ-Beispiel für flächenzehrende Siedlungen und Bauweisen und überdurchschnittlichen Wohnungsgrößen weit entfernt. In Münster hat man erkannt: Für ein Mehrfamilienhaus spricht, dass auf dem gleichen Grundstück mehr Menschen leben können. Eine Rolle spielt dabei die Bodenversiegelung: Für ein Einfamilienhaus – mit weniger Menschen – muss in Relation mehr Boden betoniert werden als für ein Mehrfamilienhaus.

Baulandprogramm bevorzugt neue Wohnformen in Mehrfamilienhäusern

In dem vom Rat der Stadt Münster beschlossenen Baulandprogramm für die kommenden Jahre sind deshalb 87% Mehrfamilienhäuser mit neuen Wohnformen und nur noch 13% Einfamilienhäuser (überwiegend als Reihen- oder Doppelhäuser) vorgesehen. Einfamilienhäuser können sich bei den vorherrschenden Bodenpreisen wie in Münster (ebenso hoch wie in Haltern) ohnehin nur noch sehr wenige Familien leisten. Senioren werden gezielte Angebote unterbreitet, damit sie ihre zu groß gewordenen Häuser verlassen können.

Bisherige Fehleinschätzungen der Kommunen

Eine solche Debatte zur Neuorientierung wäre auch im Halterner Rat längst überfällig. Die Bertelsmann-Stiftung schrieb schon vor 10 Jahren in ihrem „Wegweiser für Kommunen“: "Über Jahrzehnte gehörte die flächige Ausweisung von Wohn- und Gewerbegebieten am Ortsrand oder im Außenbereich zur Routine in den Kommunen. Die Siedlungsflächenausdehnung führt nicht nur zu einem quantitativen Verlust von Freiflächen und landwirtschaftlichen Nutzflächen; sondern hat auch negative Folgen für die wirtschaftliche Situation der Kommunen und die Lebensqualität ihrer Bürger.“

„Dabei orientiert sich die kommunale Politik in ihrer Ausweisungspraxis häufig weniger an der Nachfrage und absehbaren Bedarfen als vielmehr an der Erwartung, dass ein umfangreiches und vielfältiges Angebot von Wohn- und Gewerbeflächen neue Bewohner und Betriebe anlockt und zur Erhöhung bzw. Stabilisierung der Steuereinnahmen und zur besseren Auslastung der Infrastrukturen führt. (…) Tatsächlich aber fallen die fiskalischen Effekte kommunaler Flächenpolitik häufig negativ aus, d.h. die Erwartungen auf Einnahmesteigerungen sind überzogen und die Kosten und Folgekosten für die Erschließung neuer Baugebiete werden unterschätzt.“

Junge Menschen können sich kein Eigenheim mehr leisten

Schon vor 3 Jahren, also bereits vor dem massiven Anstieg der Baupreise und Zinsen, kam eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft zu folgenden Erkenntnissen: „Junge Menschen können sich kein Eigenheim mehr leisten. Immer weniger Deutsche können sich eine eigene Wohnung leisten. Besonders jüngere Generationen schrecken vor dem Immobilienkauf zurück. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland beim Wohneigentum auf dem vorletzten Platz. In Deutschland ziehen immer weniger Menschen von einer Mietwohnung in die eigenen vier Wände.“ Hauptsächlich Gutverdiener ziehen in ein Eigenheim um. So würden mehr Selbstständige eine eigene Immobilie besitzen, aber immer weniger Beamte und Angestellte.

Obwohl junge Menschen weit mehr Zeit hätten, einen Immobilienkredit zurückzuzahlen, "finden sie kaum noch Zugang zum Wohnungsmarkt", heißt es in der Studie. Ein Hauptgrund sei, dass weit mehr Eigenkapital für den Immobilienkauf nötig ist als noch vor einigen Jahren. Benötigt werden teilweise 50 Prozent mehr als noch vor fünf Jahren. Da es kaum noch Zinsen auf Erspartes gebe, falle es jungen Menschen besonders schwer, das Kapital zu beschaffen, so die Studie.

Baulandausweisung am Ortsrand und Vernachlässigung der Ortskerne

In einer Prognos-Studie zu den Wohnkosten in Deutschland bemängeln die Forscher, dass manche ländliche Kommunen großzügig Bauland ausweisen, um neue Einwohner anzuziehen. Dabei bestehe nach Ansicht der Experten die Gefahr, dass die Altbauten in den Ortskernen verwaisen, weil der Neubau von Einfamilienhäusern aufgrund der günstigen Kreditvergabe bevorzugt wird. In vielen ländlichen Regionen sind deshalb mehr Wohnungen entstanden, als auf der Basis der demografischen Entwicklung und den Bedarfsberechnungen vertretbar. Das hat vor allem in Haltern zu explodierenden Preisen und teurem Bauen und Wohnen geführt.

Dass im Zuge der allseits angestrebten „Innenverdichtung vor Außenzersiedelung“ über vielfältige andere, verdichtete und urbane Wohnformen nachgedacht werden muss, die überdies auch weniger Pendelverkehr im Rahmen der „Verkehrswende“ ermöglichen, ist ein „Gebot der Stunde“. Dabei sollte man sich von der Vorstellung oder dem Vorurteil verabschieden, dass verdichtete, urbane und vielfältige Wohnformen oder Mietshäuser und Mehrgenerationenhäuser und Eigentumswohnungen hässlich und klotzig sein müssen, als hässliche Wohnsilos oder Hochhäuser. Denn es gibt sehr ansehnliche und einladende Bauweisen in ansprechender Architektur und Funktionalität, die oftmals dem eintönigen Reihenhaus oder Fertighaus in der ausgedehnten Stadtrandsiedlung an Wohnqualität und Vorteilen weit überlegen sind. Und die soziale Vielfalt bedeute auch Lebensvielfalt, als wenn man am Stadtrand nur „unter sich“ bleibt und lange Wege oder Isolation dafür in Kauf nimmt.

Neuorientierung auch in Haltern überfällig

In Haltern gibt es somit in Zukunft erheblichen Veränderungs- und Verkleinerungsbedarf, denn 31% der Haushalte in Haltern sind 1-Personen-Single-Haushalte und 36% Zweipersonen-Haushalte. Etwa 16% sind 3-Personen-Haushalte und nur knapp 18% sind Haushalte mit 4-Personen und mehr. Auf die Wohnbedarfe dieser relativ kleinen Zielgruppe der größeren Familien ist aber hauptsächlich die Eigenheimbaupolitik der Stadt fokussiert. Auch wenn deren berechtigte Bedürfnisse nach großen Wohnungen oder Häusern angemessen einzuplanen sind, dürfen aber die anderen (größeren) Zielgruppen mit über 70% nicht länger vernachlässigt werden! Eine bedarfsgerechte Umorientierung der Halterner Wohnungsbaupolitik ist deshalb dringend geboten.

Demografischer Wandel als neue Herausforderung

Die Zahl der Senioren in Haltern über 65 Jahre wird bis 2025 auf fast 10.000 Personen und bis 2040 auf über 13.400 Personen ansteigen, der über 60-jährigen auf 15.400 Personen, das ist dann ein Anteil von ca. 45 % der Halterner Bevölkerung, mit entsprechendem Bedarf nach kleineren altersgerechten Wohnungen in urbanem Umfeld. Senioren bauen in der Regel keine Einfamilienhäuser im Grünen mehr, sondern bevorzugen stadtnahes Wohnen mit Infrastruktur in der Nähe. Die demografische Entwicklung ist somit ein wichtiger Faktor für die weitere Wohnungsbauplanung.

Der bloße Druck auf den örtlichen Immobilienmarkt ersetzt für die Zukunft keinen fundierten Bedarfsnachweis für eine stetige Angebotserweiterung der Bauflächen (unter Beachtung aller Restriktionen und Parameter zur Erreichung der übergeordneten Nachhaltigkeitsziele). Die Rendite-Interessen und der Einfluss von Investoren, Bauunternehmen, Maklern, Grundbesitzern und Banken darf nicht länger ausschlaggebend sein für die Wohnungsbaupolitik in Haltern am See.

Empfehlungen der NRW-Bank für Haltern

Die NRW-Bank empfiehlt für Haltern z. B. ein aktives Baulandmanagement vor dem Hintergrund des prognostizierten Bevölkerungsrückgangs. Eine zugehörige Einschätzung des kurz-, mittel- und langfristigen Wohnungsbedarfs ist unerlässlich für die Klärung der Frage: Welche Art von zusätzlichen Wohnungen wird gebraucht? Mit Blick auf die Alterung der Bevölkerung und die Vielzahl von Ein- und Zweipersonen-Haushalten könnten in Haltern eher kleinere, altersgerechte Wohnungen statt noch mehr Einfamilienhäuser im Grünen gebraucht werden.

Vor allem aber fehlen bezahlbare Mietwohnungen und Sozialwohnungen, wenn nicht einkommensschwächere Bevölkerungsschichten aus Haltern weiterhin verdrängt werden sollen und zum Abwandern in Nachbarstädte gezwungen werden. Mit der Sanierung und dem Umbau im umfangreichen Altbau-Bestand in der Stadt eröffnen sich Perspektiven, ebenso mit einem einzufordernden Prozentanteil an Sozialwohnungen bei größeren Neubauprojekten.

Haltern – Stadt der Zukunft oder der Vergangenheit?

Die Stadt Haltern kann von Münster lernen: Die Städte der Zukunft sind kompakt und schützen Freiräume. Nur eine nachhaltige Stadtentwicklung wird den Ansprüchen der Bürger auch in Zukunft gerecht. Denn nicht nur aus ökologischer Sicht, sondern auch mit Blick auf den demografischen Wandel und der anhaltenden Krise der öffentlichen Haushalte sind die Kommunen gezwungen, die Siedlungsentwicklung der vergangenen Jahrzehnte kritisch zu hinterfragen. Die anhaltende hohe Neuinanspruchnahme von Flächen für Siedlungs- und Verkehrszwecke stellt ein gravierendes Problem auf dem Weg zu einer nachhaltigen Stadtentwicklung dar.

Abschied vom Bauen auf der grünen Wiese

Eine weiterhin hohe Inanspruchnahme neuer Flächen auf der „grünen Wiese“ ist angesichts einer Bevölkerung, die nicht nur immer weniger, sondern auch älter und bunter wird, wenig nachhaltig. Der demografische Wandel und eine Ausdifferenzierung der Lebensstile führen gleichwohl zu einer qualitativen Veränderung der Wohnraumnachfrage. Die weitere Ausdehnung der Siedlungs- und Verkehrsfläche außerhalb bestehender Siedlungskerne erweist sich zudem immer mehr als Kostenproblem für die Städte und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen. Die Kommunen schränken so ihren eigenen Handlungsspielraum massiv ein. Eine auf Vorratshaltung ausgerichtete Angebotsplanung ist für die Kommunen nicht mehr tragbar und auch nicht zukunftsfähig.

Rat der Stadt Haltern ist gefordert

Die Versorgung mit Wohnraum ist eine wesentliche Aufgabe des Wohlfahrtsstaats und der Kommunen vor Ort. Wird das Wohnen für einen wachsenden Teil der Bevölkerung unbezahlbar, fördert dies gesellschaftliche und sozialräumliche Spaltung und bedroht letztlich auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Stadt. Wohnen ist die neue soziale Frage, und sie wird allerorts heiß diskutiert. Verwunderlich sei die unverständliche Zurückhaltung der Kommunen mit hohem Mietpreisniveau, bemängelte NRW-Bauministerin Scharrenbach (CDU) schon vor 2 Jahren und will bei den Kommunen nachhaken, wie sie sich künftig bei der öffentlichen Wohnraumförderung aufstellen wollen.

Das Land NRW hat die Herausforderung erkannt und den Kommunen nebst den Wohnungsbauförderprogrammen eine Reihe von Planungsinstrumenten mit erweiterten rechtlichen Möglichkeiten (Vorkaufsrecht, Baugebote, Befreiungen von Bebauungsplanvorschriften) zur Verfügung gestellt, die am 11. Mai in öffentlicher Sitzung des Stadtentwicklungsausschusses und am 25. Mai im Rat der Stadt Haltern beraten werden. Es ist zu hoffen, dass nicht über die Frage des „ob“ der Anwendung, sondern über die Fragen des „Wann“, "Wo" und „Wie“ ihrer Nutzbarmachung diskutiert wird. Die Stadt Münster, aber auch viele andere wie die Stadt Borken, sind längst vorangeprescht und greifen die neuen Möglichkeiten gerne auf. Haltern kann es sich nicht leisten, in Zeiten der neuen Wohnungsnot die Bundes- und Landespolitik für den Wohnungsbau zu torpedieren und einen „Halterner Sonderweg“ zu gehen, der aus einem sturen „weiter so“ besteht…

Wilhelm Neurohr, 04. Mai 2023

Autor:

Wilhelm Neurohr aus Haltern

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