Mobilitätswende: Anspruch und Wirklichkeit
Kommentar: Benötigt die stockende Verkehrswende in Haltern einen „Doppel-Wumms“?

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Ersteller: Wolfram Däumel | Credit: Wolfram DAeUMEL: https://www.suwolf.de
Urheberrecht: CC BY-SA 3.0 DE

HALTERN AM SEE. Im Gegensatz zu anderen (ehrgeizigeren) Städten geht es in der Wohn- und Touristenstadt Haltern am See mit 33.500 Autos, mit täglich 7.500 Auspendlern und jährlich 3 Mio. Touristen nicht wirklich spürbar voran mit der propagierten „Mobilitäts- und Verkehrswende“. Zumindest geht manches viel zu langsam und schwerfällig angesichts der drängenden Herausforderungen der Klimakatastrophe. Die nachfolgenden Schwachpunkte zeigen: Von einer wirklichen Mobilitäts- und Verkehrswende zur Erreichung der übergeordneten Zielvorgabe, den Autoverkehr bis 2035 zu halbieren, sieht man in Haltern vorerst kaum eine Spur. In wenigen Wochen ist der Zeitpunkt der Halbzeitbilanz für die Halterner Ratsparteien in dieser Wahlperiode. Vielleicht bedarf es eines energischen „Doppel-Wumms“, um auch die Stadt Haltern und ihre Verkehrsteilnehmer aus ihrem motorisierten Dornröschen-Schlaf zu erwecken und bei der örtlichen Verkehrswende „eine Schüppe draufzulegen“ sowie auch mehr bereitstehende Fördergelder abzurufen?

  • Der PKW-Bestand nimmt in Haltern Jahr für Jahr weiterhin überdurchschnittlich zu (aktuell auf über 33.500 Autos für ca. 18.000 Haushalte) und führt zu vollgeparkten Straßenräumen und steigenden Unfallzahlen in der Stadt sowie überfüllten Straßen an den Wochenenden und damit hoher gesundheitsschädigender Schadstoffbelastung für die Bewohner. Nach zusätzlichen Stellplätzen für den ruhenden Autoverkehr wird derzeit kontraproduktiv gerufen. Haltern hat bekanntlich den höchsten PKW-Besatz pro 1.000 Einwohner in der gesamten Region und liegt über dem Bundesdurchschnitt. Rund 80% der Fahrten in der Stadt werden weiterhin mit dem PKW zurückgelegt, während der Anteil des Rad- und Fußverkehrs sowie die ÖPNV-Nutzung stagnieren; andere Städte verweisen derweil auf deutliche Steigerungen. Der Anteil der Autos mit Elektromotor liegt in Haltern bei nur knapp 2%, d.h. 98% fahren weiterhin Verbrenner, (obwohl sich die weit überdurchschnittlich einkommensstarke Halterner Bevölkerung eher ein teures Elektroauto leisten könnte). Auch die geplante Eindämmung des lautstarken und unfallträchtigen Motorradverkehrs in Haltern durch bloße Appelle ist kläglich gescheitert.
  • Trotz des Etiketts der „fahrradfreundlichen Stadt“ - die in den letzten 20 Jahren keinen Meter Radweg neu gebaut hat - geht auch die Verbesserung des Radwegenetzes in Haltern nur schleppend voran. Beim Innenstadt-Verkehrskonzept streiten Autobefürworter und Radfahrer derzeit noch um den Vorrang. Die Entscheidung gegen die Autos und für die Fahrräder z.B. am Schüttenwall verläuft kontrovers. In vielen Köpfen schwebt noch das Leitbild der „autogerechten Stadt“. Beim Radwegenetz gibt es im gesamten Stadtgebiet und auf den Dörfern noch Lücken und Defizite ohne Ende (siehe Annabergstraße, Schüttenwall, Recklinghäuser Straße, Anbindung der Dörfer, Ortsdurchfahrt Lavesum u.v.m.). Innovative Ideen und Verbesserungsvorschläge werden vor allem von Bürgerinitiativen und vom ADFC vorgebracht, die für die Durchsetzung gegen viele Widerstände kämpfen müssen.
  • Für die Radfahrer sind allerdings im Stadtgebiet 20 E-Bike-Ladestationen und einige Fahrradbügel in 2022 aufgestellt worden als bescheidener Beitrag zur Mobilitätswende – immerhin. Am Bahnhof gibt es eine große Radstation mit Unterstellplätzen; ein großer Fahrradparkplatz wurde 2020 in der Innenstadt an der Mühlenstraße mit 40 Bügeln für 80 Fahrräder eingerichtet. Weitere Abstellplätze sind vorhanden. Im Mai 2022 kam sogar eine Diskussion um ein Fahrrad-Parkhaus am Bahnhof evtl. als „Parkturm“ für 900.000 € für perspektivisch bis zu 1.000 Fahrrädern auf, anschließend Thema auch im Klima-, Umwelt- und Mobilitätsausschuss im Rat. Sollte Haltern doch noch mit einem innovativen „Doppel-Wumms“ überraschen? Zeitweilig wurde auch der Kauf eines Lastenfahrrads oder Fahrradanhängers mit bis zu 30% des Einkaufspreises durch die Stadt gefördert. Nur beim maßgeblichen Radwegebau als Grundvoraussetzung für die Fahrradnutzung geht es kaum voran; so können auch die besten Abstellmöglichkeiten nicht erreicht und genutzt werden.
  • Beim ÖPNV ist in Haltern noch ganz viel Luft nach oben, insbesondere bei der Anbindung der Dörfer im Stadtgebiet und untereinander sowie bei der Taktdichte. Beim neuen Nahverkehrskonzept der Vestischen mit einer groß angelegten „Verkehrswende“ für den Kreis Recklinghausen mit Millionen-Investitionen ging Haltern zunächst leer aus, während in den anderen Kreisstädten großzügige Verbesserungen starten. Jetzt hat die Vestische einige konkrete Ideen und Pilotvorhaben für die ländliche Flächenstadt Haltern nachgeliefert, die jedoch sogleich auf allerlei Bedenken und Vorbehalte seitens der Stadt stießen, so dass die Vestische in „Dialoggesprächen“ mit den Verantwortlichen und den Bürgern noch viel werben muss. Der Vorschlag für mehr Busse im engen Takt zu den touristischen Hotspots  (wie Ketteler Hof, Silbersee oder Stadtmühlenbucht) auch spätabends sowie gezielt abrufbare Taxibusse auf den Dörfern als Pilotprojekt erscheinen sinnvoll. Ein Blick in das benachbarte Münsterland zeigt, wie man dort vorbildliche Konzepte für die ÖPNV-Anbindung der Dörfer bereits umgesetzt hat. Hier hinkt Haltern hinterher. Ein Lichtblick ist in Haltern allerdings der vor Jahren auf Bürgerinitiative zustande gekommene und stets zuverlässige Bürgerbus in Eigenregie des rührigen Bürgervereins. Den Halterner Dorfbewohnern ist damit leider nicht gedient.
  • Beim Schienenverkehr ist der Halterner Bahnhofs-Umbau (mit gleichzeitiger Schließung des Service-Schalters und des Zeitungskiosks) zwar vollendet, doch auf kaum einer anderen Stecke gibt es so häufige Zugausfälle und -verspätungen, so dass die Pendler genervt sind. Nach wie vor sind die ungepflegten Bahnhofstoiletten im Nebengebäude unzumutbar. Und bis heute hat die Stadt noch nicht einmal sichtbare Wegweiser zu den neuen Park-and-Ride Parkplätzen insbesondere für die Ortsfremden aufgestellt. (Der Abschnitt der Recklinghäuser Straße bis zum Ikenkamp als Bahnhofs-Zubringer ist überdies ein gestalterischer Schandfleck für Haltern als „die schönste Stadt im Kreis“…). Der Vorort-Bahnhof Sythen ist als Haltepunkt schlechter als vorher angebunden durch Fortfall des durchgehenden RE 2 nach Düsseldorf. Eine geplante neue Direktverbindung von Haltern nach Bochum ist zeitlich verschoben worden.
  • Für das Hohe-Mark-Förderprogramm für den ländlichen Erholungsraum sind im Vorjahr mit Bürgerbeteiligung viele kreative Vorschläge für die Mobilität mit Radwegen und Busverbindungen auch zwischen den einzelnen Dörfern erarbeitet worden. Sie sind aber anschließend weder im Leitbild noch bei den Förderprojekten aufgegriffen worden, wo vielmehr die Anbindung über das Straßennetz für den motorisierten Individualverkehr ausführlich dargestellt wird. Als bloßes Stichwort wird lediglich „Barrierefreie E-Mobilität“ in der „VITAL.NRW Region Hohe Mark“ erwähnt und die fehlende Schienenanbindung einiger Dörfer bemerkt. Die „Zunahme der ÖPNV-Angebote“ wird als bloßes abstraktes Ziel deklariert ohne ein konkretes Projekt dafür zu benennen. Umgesetzt wurden lediglich einige belanglose Kleinprojekte außerhalb Halterns wie „Mitfahrerbänke“ in Dülmen, Buldern und Hiddingsel. Halterner Mobilitätsprojekte in der Hohen Mark: Fehlanzeige. Die aus Sicherheitsgründen dringend notwendigen Fahrradwege im Kernraum der Hohen Mark an der Halterner Granatstraße und Merfelder Straße wurden bis auf weiteres auf Eis gelegt bis zum St. Nimmerleinstag, obwohl Bürgerinitiativen seit über einem Jahrzehnt dafür kämpfen und auch der Regionalverband Ruhr hier sogar Radfernverbindungen projektiert hat, ohne dass die verkehrssichere Radinfrastruktur dafür vorhanden ist.

Halbzeitbilanz der Halterner Ratsfraktionen im März 2023

Die Verkehrs- und Mobilitätswende war als ein Kernanliegen aller Ratsparteien in den Wahlprogrammen von 2020 mit mehr oder weniger starker Priorität und Dringlichkeit angekündigt worden. Im März 2023 ist die Hälfte der Wahlperiode der im September 2020 gewählten Ratsfraktionen um. Das ist der Zeitpunkt für eine Halbzeitbilanz, um die Wahlversprechen in den Kommunalwahlprogrammen der örtlichen Parteien mit der Wirklichkeit abzugleichen. In punkto Mobilitäts- und Verkehrswende, aber auch in punkto bezahlbares Wohnen oder durchgrünte Wohngebiete im Innenbereich und Schutz der Landschaft vor Zersiedelung im Außenbereich usw. dürfte es weitgehend ernüchternde Bilanz-Ergebnisse geben, Auf jeden Fall lohnt sich ein Blick in die damaligen Programmaussagen und Zielsetzungen, sofern sie noch auf der Website der Parteien vollständig zu finden sind. In der noch verbleibenden 2. Halbzeit der Wahlperiode muss es vorangehen, sonst droht der Abpfiff oder die rote Karte.

Wilhelm Neurohr, 23. Februar 2023

Siehe auch sechs frühere Artikel des Autors im Lokalkompass zu diesem Thema:

https://www.lokalkompass.de/haltern/c-politik/statt-ueberfaelliger-verkehrswende-in-haltern-wieder-zurueck-zur-autogerechten-stadt_a1808188

https://www.lokalkompass.de/haltern/c-politik/geht-der-laendliche-raum-haltern-leer-aus-bei-der-nahverkehrswende-im-kreis-recklinghausen_a1757950

https://www.lokalkompass.de/haltern/c-politik/wie-gelingt-die-klimaneutrale-mobilitaetswende-in-haltern_a1479617

https://www.lokalkompass.de/haltern/c-politik/was-wir-von-anderen-laendern-lernen-koennen_a1755469

https://www.lokalkompass.de/haltern/c-politik/eigenlob-stinkt-umstrittene-bestbewertungen-fuer-halterner-bahnhof_a1739134

https://www.lokalkompass.de/haltern/c-politik/ein-moderner-barrierefreier-zukunftsbahnhof-leider-mit-staendig-verspaeteten-und-ausfallenden-zuegen-und-ohne-kundenservice_a1653178

Autor:

Wilhelm Neurohr aus Haltern

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