UN: Menschenrechtsverletzungen in Deutschland
KINDERARMUT IN DEUTSCHLAND ALS DAUERZUSTAND: Steigende statt sinkende Armutsquoten für verlorene Generationen
3 Mio. Betroffene: Kinderarmut stieg in den letzten 25 Jahren von 18% auf 23%
Zum vierten Mal in Folge seit 2007 ermahnte vorige Woche der UN-Menschenrechtsrat auf seiner Sitzung in Genf die Bundesrepublik Deutschland wegen einer Reihe von Verstößen gegen die sozialen Menschenrechte. Insbesondere auch wegen der anhaltenden und ungebremst steigenden Kinderarmut in Deutschland von 18% auf über 22% in den letzen 20 Jahren, begleitet von der Bildungsbenachteiligung der Betroffenen. Die UN-Kinderrechtskonvention ist seit 1992 für Deutschland in Kraft und gilt seit 2010 ohne Einschränkungen. Sie ist damit ein verbindlich geltendes Recht in Deutschland, auf das sich alle unter Achtzehnjährigen berufen können, demnächst auch mit Verfassungsrang im Grundgesetz (nach Beendigung des Parteienstreites).
Trotzdem ist jedes vierte bis fünfte Kind in Deutschland (in Revierstädten wie Gelsenkirchen sogar jedes 2. Kind) weiterhin von Kinderarmut betroffen. Positive Verbesserungen sind für die 3 Millionen betroffenen Kinder und Jugendlichen nicht in Sicht, wenn der Sozialhaushalt absehbar dem Militärhaushalt geopfert wird. Es hapert also in Deutschland auch 30 Jahre nach der Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention an der Umsetzung, so dass zahlreiche Kinderrechte in Deutschland weiterhin verletzt werden. So wird Kinderarmut zur Familienarmut und erbt sich über Generationen fort – ein politischer Skandal, der von „sozialer Kälte“ und politischem Totalversagen zeugt.
Deutschland hat zwar alle zentralen Übereinkommen der Europäischen Union, des Europarats und der Vereinten Nationen zum Schutz der Menschenrechte unterzeichnet. Institutionen in Deutschland wie das Deutsche Institut für Menschenrechte oder der Bundestagsausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe sollen dafür sorgen, dass Deutschland diese Übereinkommen einhält. Denn Kinderrechte sind Menschenrechte. Deren Verwirklichung lässt sich daran messen, inwieweit die Schwächsten in einer Gesellschaft zu ihrem Recht kommen. Doch für Zweidrittel der Kinder und Jugendlichen ist die Armut ein Dauerzustand. 6000 Kinder leben sogar als "Straßenkinder" auf Deutschlands Straßen.
Politik der „sozialen Kälte“ übersieht Folgen der Kinderarmut
Deshalb gibt es in Deutschland politisch noch viel zu tun, was aber seit über 25 Jahren unterbleibt und auch aktuell nicht erkennbar ist. Inzwischen ist schon die nächste Generation herangewachsen, die wiederum nicht aus der Armutsfalle herauskommt und gleiches auch für ihre Kinder befürchten muss, wenn die „Politik der sozialen Kälte“ ein weiteres Jahrzehnt fortgeführt wird. Die aktuell veränderten haushaltspolitische Prioritätensetzungen zugunsten des drastisch erhöhten Militärhaushaltes gegenüber dem von Kürzungen betroffenen Sozialhaushalt lassen nichts Gutes ahnen für die Zukunft der Kinder und Jugendlichen.
Die Folgen von Armut sind überdies vielschichtig, von schlechter Ernährungslage über mangelhafte Betreuung und gesundheitliche Versorgung sowie Wohnungslosigkeit bis hin zur Ausgrenzung und Isolation, weil das Geld für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben fehlt. Von den gravierenden Folgen für die gesamte Gesellschaft einmal abgesehen. Die sozial Benachteiligten ziehen sich auch von der Parteiendemokratie zurück. Das zeigen die Wahlergebnisse in den sozial benachteiligten Stadtteilen und Armutsvierteln im Ruhrgebiet besonders deutlich. Können sich die gewählten Volksvertreter wirklich in die Situation der 13 Millionen Menschen hineinversetzen, die in Deutschland als arm gelten? Jeder vierte Mieterhaushalt ist inzwischen armutsgefährdet.
„Kinderarmut und Bildungsbenachteiligung ist ein Skandal“
Der Präsident des deutschen Kinderhilfswerkes spricht Klartext: „Wir brauchen bei der Bekämpfung der Kinderarmut in Deutschland endlich ein klares Signal aller an die junge Generation, dass der gesellschaftliche Skandal der Kinderarmut entschieden angegangen wird. Immer neue Höchststände bei den Kinderarmutszahlen zeigen den dringenden Handlungsbedarf und auch die Notwendigkeit, hier zügig mehr finanzielle Mittel als bisher zur Verfügung zu stellen. Mit einer reinen Zusammenfassung der bisherigen Unterstützungsleistungen kommen wir bei der Bekämpfung der Kinderarmut nicht den entscheidenden Schritt voran, den es dringend braucht."
Den gut versorgten Politikern fehlt es an eigener Erfahrung, was es bedeutet, in einem Wohlstandsland arm zu sein. Schon Nelson Mandela sagte 2005: „Das größte Problem in der Welt ist die Armut in Verbindung mit fehlender Bildung. Wir müssen dafür sorgen, dass Bildung alle erreicht.“ Kinder aus sozial benachteiligten Familien gehören meist zu den Bildungsverlierern. Vorenthaltene oder unzureichende Bildung ist ein Verstoß gegen den Artikel 26 (1) der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Dessen Einhaltung ist ohne hinreichende finanzielle Förderung der Armutsfamilien und zusätzliche Gelder in die Bildungsförderung kaum erreichbar. Die Politik hinterlässt quer durch alle Parteien nicht nur eine verlorene Generation, sondern längst verliert auch die zweite und dritte Generation ihre Kindheit und Jugend.
Bildung allein kann nicht das Armuts- und Verteilungsproblem lösen
Die Bundesregierung und deren Menschenrechtsbeauftragte haben jedoch gegenüber dem UN-Menschenrechtsrat nur völlig unzureichende Mittelerhöhungen etwa beim „Bürgergeld“, beim Kindergeld und bei der Grundsicherung vorzuweisen. Diese reichen aber keinesfalls, um das wachsende Problem zu lösen, während zugleich die Bildungsbenachteiligung derzeit in Deutschland sogar noch eher zunimmt als abnimmt. Viele Untersuchungen zeigen, wie sich Armut auf die Bildung auswirkt. Gleichwohl kann allein eine bessere Bildung nicht das Armutsproblem als Verteilungsproblem in der Gesellschaft lösen. So wichtig mehr Bildung für Kinder aus Armutsfamilien ist, so wenig kann damit das Armutsproblem gelöst werden.
30-jähriges Totalversagen von 9 Regierungskoalitionen mit 4 beteiligten Parteien
Das hält die verantwortlichen (und selber gut versorgten) Politiker nicht davon ab, zum bevorstehenden „Tag der Menschenrechte“ am 10. Dezember in Sonntagsreden wieder leere Versprechungen abzugeben, wie in den 30 Jahren zuvor. Denn seit 1990 haben sieben Regierungen mit allen 4 beteiligten Parteien über 3 Jahrzehnte in 9 Wahlperioden allesamt ein Totalversagen bei der stets verkündeten Beseitigung der Kinderarmut verschuldet: Die schwarz-gelbe Regierung Kohl in den 90-er Jahren , die rot-grüne Regierung Schröder um die Jahrhundertwende (mit ihrer Armut auslösenden Agenda-Politik des Sozialabbaus), die schwarzgelbe und schwarzrote Regierung Merkel 16 Jahre lang sowie die seit 2021 amtierende Ampelkoalition von rot-grün-gelb.
„Kinderarmut ist eine Schande für das reiche Deutschland“
In der rot-grünen Regierungsära Schröder und danach in der langen Regierungsära Merkel sind mit Hilfe von Sozialdemokraten und auch mit Freidemokraten die Armutsquoten besonders stark gestiegen. Daraufhin hatte die Langzeit-Bundeskanzlerin Merkel bei ihrer vorletzten Regierungserklärung im Bundestag schamlos erklärt: „Kinderarmut ist eine Schande für unsere reiches Land“- so als sei nicht sie als langjährige Regierungschefin dafür maßgeblich mitverantwortlich, sondern die Betroffenen selber? Oder als sei die Kinderarmut naturgegeben? Den gleichen Spruch wiederholte kürzlich der Grünen-Vorsitzende Omid Nouripour mit denselben Worten und verwies lediglich auf die Bedeutung der von den Grünen angestrebten „Kindergrundsicherung“, die aber vom Koalitionspartner FDP weitgehend ausgebremst wurde.
Bundeskanzler Scholz warb im Wahlkampf mit dem Plakat: “Kein Kind soll mehr in Armut aufwachsen!“ Und auch die steigendenden Mieten, die für viele Armutsfamilien unbezahlbar sind und den Abstieg in die Armut beschleunigen, wurde mit der Parole begegnet: „Mietwucher werden wir wirksam unterbinden“. Von beiden vollmundigen Versprechungen ist nach 2 Regierungsjahren noch nicht viel erkennbar. Und die grüne Partei trat mit dem Slogan an: „Kinder in den Mittelpunkt Wir fördern Kinder, Jugendliche und Familien. Eine Kindergrundsicherung gegen Kinderarmut.“ Nach dem Ausbremsen durch die FDP und dem bloßen Zuschauen des Kanzlers bei deren Streit mit den Grünen Koalitionspartner ist die geschrumpfte Kindergrundsicherung als völlig unzureichender Kompromiss dabei herausgekommen. Eine Perspektive für die Überwindung der Kinderarmut ist daraus kaum zu erkennen.
Alle sozialen Versprechungen der Politik gehen seit 20 Jahren ins Leere
Seit der Jahrhundertwende, also seit über 20 Jahren, geht in Deutschland und in NRW die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander, entgegen allen politischen Versprechungen bei jeder Wahl alle vier oder fünf Jahre. Offenbar liest die Regierung ihre alljährlichen "Amutsberichte" selber nicht einmal. Sämtliche Regierungskoalitionen in Bund und Land haben es im reichsten EU-Land nicht vermocht, die wachsenden Schlangen vor den Tafeln und Suppenküchen entbehrlich zu machen, die Zahl der Obdachlosen und Wohnungsuchenden zu senken, die Kinderarmut und Armutsrenten zu überwinden, die prekären Arbeits- und Einkommenssituationen vollends zu überwinden und halbwegs soziale Gerechtigkeit und Bildungsgerechtigkeit zuteilwerden zu lassen.
Am "Tag der Menschenrechte" am 10. Dezmeber gibt es wieder politische Sonntagsreden
Am 10. Dezember wird wieder der „Tag der Menschenrechte“ mit politischen Sonntagsreden der dafür Verantwortlichen begangen und von ihnen das Kindeswohl scheinheilig hervorgekehrt. Doch die Regierung hat dem UN-Menschenrechtsrat an konkreten Maßnahmen nur ihr völlig unzureichendes Bürgergeld, leicht erhöhtes Kindergeld oder die unzulängliche Grundsicherung anzubieten, auch keine steuerlichen Maßnahmen zugunsten der Armen. Eine wirksame Armutsbeseitigung findet also nicht statt. Besonders schwerwiegend wirken sich Armut, ungleiche Bildungschancen und die Erfahrung von Diskriminierung auf die Lebenssituation und das Wohlbefinden von Kindern aus.
Die Verbesserung der Menschenrechtslage vor Ort und die Einhaltung der menschenrechtlichen Verpflichtungen zu fördern, ist das Anliegen der vereinten Nationen. Am vergangenen Donnerstag war nunmehr Deutschland zum vierten Mal nach 2018, 2013 und 2009 an der Reihe. Und erneut wurde sichtbar: Der Bericht zeigt, dass auch 30 Jahre nach Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention zahlreiche Kinderrechte in Deutschland verletzt werden. Der UN-Wirtschafts- und Sozialrat hat Deutschland wiederholt Defizite bei der Umsetzung der sozialen Menschenrechte vorgeworfen.
Andere Staaten weisen Deutschland auf „blinde Flecken“ hin
Luise Amtsberg, die Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, hatte wohl bereits am Morgen vor der Sitzung des UN-Menschenrechtsrates in Genf geahnt, was auf sie zukommt. Im Interview mit dem Deutschlandfunk (DLF) kündigte sie an, die zu erwartende Kritik anderer Staaten an menschenrechtlichen Defiziten in Deutschland "sportlich" zu nehmen, egal von wo sie komme – also auch von Staaten wie China und Katar. "Blinde Flecken in Deutschland sind nicht weniger wichtig, nur weil sie von Staaten kritisiert werden, die eine noch schlechtere Bilanz haben", so die Grünen-Politikerin.
Oftmals sind es Kinder von Flüchtlingen oder Migranten, die in Deutschland besonders von Kinderarmut und Ausgrenzung betroffen sind. Viele UN-Staaten machten deshalb klar, dass Deutschland Rassismus, auch institutionellen Rassismus, rassistische Diskriminierung und Gewalt stärker bekämpfen müsse. Übrigens liegt die Armutsquote von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren durchgehend deutlich über derjenigen der Gesamtbevölkerung und hat seit der Flüchtlingszuwanderung wieder deutlich zugenommen. Besonders betroffen sind also vor allem Kinder von Eltern mit Migrationshintergrund oder mit einem niedrigen Bildungsabschluss, aber auch Kinder von Alleinerziehenden und Eltern mit drei oder mehr Kindern.
Es gibt kein Entkommen aus der Kinderarmut ohne politische Prioritätensetzung
Es ist also schwierig, der Kinderarmut zu entkommen, solange die Politik dies nicht zu ihrem Hauptthema und –anliegen macht, wie zuvor im Wahlkampf versprochen. „Eigentlich müsste das Problem die Gesellschaft bewegen", meint Armutsforscher Prof. Christoph Butterwegge. Doch die sozialpolitische Bilanz der Bundesregierung fällt bescheiden aus und die Ziele sind wenig ambitioniert.
Wegen allerlei Streichungen müssen aktuell sogar Sozialeinrichtungen schließen und in Schulen entfällt das kostenlose Mittagessen für Kinder und Jugendliche aus ärmeren Familien, die komplett den Anschluss verlieren und jetzt auch noch in Wohnungsnot geraten. Es scheint ziemlich sicher, dass sich die Bundesregierung auch in den kommenden Jahren beim nächsten UN-Check wieder vor dem UN-Menschenrechtsrat wegen unterlassener Hilfeleistung für die Armen wird rechtfertigen müssen…..
Wilhelm Neurohr, 11. November 2023
Siehe auch vorherige Beiträge des Autors:
Autor:Wilhelm Neurohr aus Haltern | |
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