Daseinsvorsorge geht vor Profit
Halterner Senioren als Opfer von Rendite-Jägern?
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HALTERN AM SEE. In diesen Tagen kam lautstarker Protest von privaten Altenpflege-Anbietern anlässlich der aktuell geplanten Pflegereform. Mit der darin vorgesehenen Tarifbindung lege die Bundesregierung „die Axt an die privaten Anbieter“, so tönte deren Lobbyist Rainer Brüderle. In Wirklichkeit erweisen sich die privaten Investitionen in Pflegeheime, Betreuungseinrichtungen und -dienstleistungen sowie Seniorenwohnungen als profitable Kapitalanlage – zu Lasten und auf Kosten der Senioren, der Pflegekasse und des Pflegepersonals. Auch aus der Stadt Haltern gibt es markante Beispiele für Pflegeeinrichtungen und Seniorenwohnprojekte als profitable Renditeobjekte – doch „Haltern ist überall“. Deshalb müsste die Pflegereform am eigentlichen Kern der Probleme ansetzen.
In einem verfassungsrechtlich garantierten Sozialstaat gilt eigentlich: Daseinsvorsorge geht vor Profit und gehört deshalb in die öffentliche Hand oder in die Obhut gemeinnütziger Träger, so fordern es auch die Sozialverbände. Wie kann in Haltern und in anderen Städten verhindert werden, dass Senioren in privaten Pflege-, Betreuungs- und Wohnprojekten zu Opfern von kommerziellen Rendite-Jägern werden? In Haltern werden bereits 11,50 € bis 12,50 € und mehr Kaltmiete pro qm für barrierefreie Seniorenwohnungen verlangt und die kommerziellen Bauträger bieten den Anlegern bei Senioreneinrichtungen lukrative 3% bis 5% Rendite auf ihr dort profitabel angelegtes Geld.
Lukrative Investitionen in Seniorenwohnungen und Pflegeimmobilien
Der Markt für gute Mietwohnungen ist für Kapitalanleger gerade in den teuren Regionen Deutschlands – dazu gehört Haltern am See - fast schon ausgelaugt, die Renditen sinken. Viele Anleger suchen daher nach Alternativen zur klassischen Mietwohnung als Kapitalanlage. Eine Möglichkeit für eine lukrative Investition sind Seniorenwohnungen oder Pflegeimmobilien, da sich die öffentliche Hand zurückhält und die Investitionen zunehmend dem Markt überlässt: 44% der Altenheime befinden sich mittlerweile in privater Trägerschaft, während der Anteil der gemeinnützigen Träger, insbesondere der Wohlfahrtsverbände, weiter sinkt. Die Quote der kommunalen Altenheime liegt bei unter 4%. Aufgrund der demografischen Situation ist jedoch ein größerer Bedarf an Wohnungen für Senioren und an Pflegeimmobilien zu erwarten. Dabei muss man zwischen klassischen Altersheimen, Betreutem Wohnen und reinen Pflegeeinrichtungen unterscheiden.
Die Investition in private Alten- und Pflegeheime ist dabei inzwischen auch kleinteilig möglich. So gibt es Objekte, in denen einzelne Apartments oder Zimmer von Privatinvestoren erworben werden können. Früher war dies hingegen die Domäne vermögender Investoren, die in der Lage sind ein Pflegeheim selbst zu errichten und zu betreiben. Manchmal war auch eine Beteiligung über einen geschlossen Fonds möglich. Heute ist das Angebot breiter geworden. Möglich ist der Erwerb einzelner Apartments - oder auch das „Crowdinvesting“ (d.h. mit finanzieller Beteiligung am Unternehmenserfolg). Dabei lassen sich auch kleinere Beträge anlegen.
Profitable Zusammenarbeit von Bauträgern und Pflegediensten
Anbieter dieser Dienstleistungen sind meist auch die Betreiber einer solchen Wohnanlage, die zusätzlich mit Pflegediensten zusammenarbeiten. Diese bieten im Pflegefall auch Pflegeleistungen je nach Pflegestufe an. Im Fall der Pflegebedürftigkeit ist es manchmal auch möglich, in eine reine Pflegeabteilung zu wechseln, wie beispielsweise bei Demenz. Diese Senioren- oder Pflegeimmobilien werden meist von Bauträgern und in Zusammenarbeit mit den zukünftigen Betreibern unter Berücksichtigung spezieller Anforderungen wie Barrierefreiheit, behindertengerechtem Bauen und erhöhten Sicherheitsvorkehrungen im Bereich des Brand- und Personenschutzes errichtet. Der Bauträger schließt mit dem Betreiber langfristige Mietverträge ab und veräußert die Wohnungen als Teileigentum an Investoren oder Selbstnutzer.
Immer mehr Wohnbaugesellschaften, die sich dem Schlagwort „Betreutes Wohnen“ widmen, erfüllen nicht einmal die notwendigen sozialen Ansprüche. Stattdessen kassieren unseriöse Unternehmer aufgrund dubioser Klauseln in den Verträgen rücksichtslos ab. Da gerade im Alter die Gebrechen kommen, nutzen Geschäftemacher diese Not schamlos aus, um an dem Leiden anderer zu verdienen. Wer sich dazu noch Unternehmer nennt und sich dann auch noch der Leiden und Nöte anderer Menschen nur des eigenen Profits wegen annimmt, der macht sich in der heutigen Gesellschaft kaum noch beliebt. Vor allem Verträge, die vor dem Einzug in die Wohnungen unterschrieben werden, erweisen sich in zahlreichen Fällen als juristisches Gruselkabinett. Von daher tut jeder gut daran, vor Bezug zuerst das Kleingedruckte zu studieren. Eigene Bilder dürfen oft nicht angebracht werden und das Mitbringen eigener Möbelstücke ist nicht erwünscht usw. Exemplarische Beispiele aus Haltern zeigen: „Haltern ist überall“.
Negativbeispiel: Millionenprojekt „Kastanienhof“ Lavesum
Eine auswärtige Immobilienmaklerin aus Waltrop, die bereits 200 Seniorenwohnungen im Ruhrgebiet verwaltet, errichtete mit dem Bauunternehmen ihrer Familienangehörigen im Dorfkern Lavesum ein das Ortsbild sprengendes dreigeschossiges Seniorenwohnprojekt mit 18 Eigentumswohnungen für Senioren und 20 spärlich möblierte Appartements (zwischen 29 und 53 qm, Kaltmiete bis 686 €) mit angebotener Tagespflege. Diese wurden als eine „neue Wohnform“ für Menschen vermarktet, „die für die stationäre Pflege noch zu fit sind, aber in ihrem bisherigen Zuhause alleine nicht zurechtkommen“. Das Millionenprojekt wurde in der Presse als „groß, aber einzigartig“ dargestellt. Und der Anbieter selber wirbt mit dem Konzept des „begleiteten Wohnens“, bei dem die „richtige Form, Ausstattung, Einrichtung und Struktur in besonderem Maße an die Bedürfnisse älterer Menschen angepasst sind“. Sogar die Lokalpresse schwärmte werbeträchtig: "In der Region einzigartig - Ein Leuchtturmprojekt für altersgerechtes Wohnen". Die Investorin des 4,3 Mio.€-Projektes, Immobilienmaklerin Ursula Eskens behauptete gar: „Diese Übergangs-Wohnform ist im weiten Umkreis einzigartig, das gibt es bislang nur in Bayern“.
Es gibt jedoch im gesamten Gebäude keinen Gemeinschafts- oder Aufenthaltsraum für die Senioren – als Begegnungsort dienen allein die breiten leeren Flure – und keine Aufenthaltsmöglichkeit im Freien, da das Gebäude in zwei Meter Entfernung direkt an einer lauten Landstraße (Motorradstrecke) liegt, mit Autoabstellplätzen rings um das Gebäude und Garagen an der vierten Seite. Ein Kiosk im Gebäude ist mittlerweile geschlossen und es gibt ringsum keine Infrastruktur: Das benachbarte Café/Restaurant, mit dem die Mieter und Käufer angelockt wurden, ist längst abgerissen (stattdessen „Essen auf Rädern“); eine benachbarte Gaststätte und die Sparkassenfiliale geschlossen und der Bus verkehrt nur im Stundentakt bzw. mittags im Zweistundentakt. Nur eine vielbefahrene Tankstelle liegt gegenüber. Eine von Anwohnern vorgeschlagene Grünanlage („Rollatorpark“) für die Senioren auf einem benachbarten Feld wurde von der Stadt abgelehnt. Bei der Vermarktung der Seniorenappartements hieß es noch vielversprechend: „Service-Wohnen im Dorfkern von Lavesum. Er bietet durch seine dörfliche Struktur eine hohe Lebensqualität.“
"Geld verdienen mit Senioren- und Pflegeimmobilien"
Die Waltroper Immobiliengesellschaft als Betreiberin des „Kastanienhofes“ nennt als ihre Kernkompetenz den Verkauf und die Vermietung von Immobilien und die Vermittlung von Immobilien als Kapitalanlage. Zu den Hausmeisterdiensten etc. heißt es auf ihrer Homepage: „Externe Dienstleister verfügen über einen Mitarbeiterstamm, der bedarfsgerecht eingesetzt werden kann. Eigenes Personal verursacht hingegen immer wieder Engpässe und Mehrkosten durch Krankheit oder Urlaub. Bei der Auftragsvergabe muss keine Rücksicht auf Arbeitsverträge oder Arbeitszeitmodelle genommen werden, ausschließlich erbrachte Leistungen werden in Rechnung gestellt.“
Und für den Immobilienvertrieb Eskens wirbt Wifried Dahlmann auf der Homepage unverhohlen mit dem Lockangebot: „Investieren in Alteneinrichtungen - Geld verdienen mit Senioren- und Pflegeimmobilien“. Immer mehr kommerzielle Anbieter versprechen den Senioren soziale Wärme und liefern stattdessen die Eiseskälte des freien Marktes. Manche kommerziellen Heimbetreiber ignorieren in ihren Verträgen völlig, dass das Heimgesetz u. a. vorschreibt, dass es für Senioren einen besonderen Kündigungsschutz sowie ein Verbot unangemessener Kostenerhöhungen gibt. Marktüblich für altengerecht gebaute Wohnungen ist ein Aufschlag von 20 Prozent, hinzukommen – je nach Art und Leistung – zwischen 25 und 300 Euro an Betreuungskosten.
Skandalträchtiger Pflegekonzern: Alloheim in Sythen
Mit der Vergabe des Pflegeheim- und Seniorenwohnprojektes im Halterner Stadtteil Sythen an den kommerziellen Betreiber Alloheim-Seniorenresidenzen mit Sitz in Düsseldorf hat die Stadt Haltern eine unverzeihliche politische Fehlentscheidung getroffen, die sie inzwischen nach allerlei Skandalfällen längst bereut hat. (Das hielt die Stadtspitze jedoch kürzlich nicht davon ab, dem Konzern mit einer rechtswidrigen Baugenehmigung zu Diensten zu sein und dafür sogar das geltende Recht zu beugen). Die dubiose Alloheim-Kette mit ständig wechselnden Investoren im Hintergrund betrieb nach Erwerb der Senterra AG bereits 2018 insgesamt fast 20.000 Pflegebetten und Apartments für Betreutes Wohnen.[8] Zur Alloheim-Gruppe gehören 2018 mehr als 155 Pflegeheime, 27 Einrichtungen mit betreutem Wohnen und 13 ambulante Pflegedienste.
Anfang 2018 berichteten Stuttgarter Zeitung und ZDF Frontal21 über Missstände in Altenheimen der Alloheim-Kette. Beim System Alloheim geht es um Rendite um jeden Preis. Dahinter steckt ein System von Profitmaximierung auf Kosten der Patienten und der Pflegekräfte. Bundesweit bekannt gewordene Missstände im Alloheim Ludwigsburg, die zur Schließung führten, waren kein Einzelfall. Die Altenheime werden von Finanzinvestoren durchgereicht und auf Rentabilität getrimmt. Der Eigentümer, die US-amerikanische Carlyle-Gruppe, hat Alloheim 2008 vom Finanzinvestor Star Capital Partners in London gekauft, die Heime auf Rentabilität getrimmt – und das ganze Unternehmen im Dezember 2017 für 1,1 Milliarden Euro an Nordic Capital mit Sitz auf der Kanalinsel Jersey verkauft. So wurde das 1973 in Bad Marienberg als einzelnes Heim gegründete Unternehmen von Finanzinvestor zu Finanzinvestor weitergereicht. Die Leidtragenden dieser Geschäftspraktiken sind die Senioren und die überlasteten Beschäftigten. Im Pflegekonzern Alloheim sind übrigens Betriebsräte und Gewerkschaften nicht erwünscht.
Teure Katharinenhöfe - Bezahlbares Wohnen im Alter als Menschenrecht
Bezahlen sollen den Profit überall die Senioren von ihrer schrumpfenden Rente, so auch beim Großprojekt „Katharinenhöfe“ einer Immobiliengruppe im Halterner Vorort Hamm-Bossendorf mit 100 Wohneinheiten und Wohngruppen für demenzkranke Menschen: Für eine 80 qm große Seniorenwohnung am Stadtrand sollen hier die Rentner 1030,- € Kaltmiete zahlen (bei jährlichen Mietsteigerungen in Haltern von 3% bis 4%). Hinzu kommen dann evtl. noch Zuzahlungen für häusliche Betreuungsleistungen. Für eine spätere Heimpflege kann kaum etwas zurückgelegt werden. Die Pflege in der Demenz- Wohngemeinschaft erfolgt durch einen kommerziellen Pflegedienst aus Gelsenkirchen, der inzwischen 6 Demenz-Wohngemeinschaftshäuser betreut.
Im gesamten Wohnkomplex der Katharinenhöfen wird keine einzige Sozialwohnung angeboten.
Öffentlich geförderte Sozialwohnungen sind hier in Haltern absolute Mangelware (nur 1,5% des Wohnungsbestandes, so wenig wie in keiner anderen Stadt im Lande),. Und das Thema Altersarmut wird einfach ausgeklammert. Fast nur private Investoren errichten hier Seniorenwohnungen im oberen Preissegment.
- Die jenigen Senioren, die sich das nicht leisten können, sind gezwungen, in preisgünstigere Nachbarstädte abzuwandern und ihre Heimatstadt im Alter zu verlassen. Die Versorgung mit bezahlbarem Wohnraum als Menschenrecht ist jedoch eine Kernaufgabe des Wohlfahrtsstaates und kann nicht allein dem kommerziellen Wohnungsmarkt überlassen bleiben. Wie können bezahlbare Seniorenwohnungen bereitgestellt werden, in einem Land, in dem jeder zweite Beschäftigte mit einer Armutsrente rechnen muss und bereits heute mehr als die Hälfte der Rentnerinnen und Rentner mit weniger als 900 € im Monat auskommen muss? Nicht zuletzt wegen der steigenden Mieten geraten laut Schuldnerberatung viele Senioren in Haltern "auf ihre alten Tage" unverschuldet in die Überschuldung.
Altwerden in Würde und Respekt statt Abzocke der Senioren
Altwerden in Würde und Respekt ist eine humane Herausforderung für die ganze Gesellschaft, erst recht für die überschaubare Stadtgesellschaft. Wie muss eine Gesellschaft beschaffen sein, damit ein Mensch auch im Alter ein Mensch bleiben kann? Wie können Senioren und die unterbezahlten Pflegekräfte, die sie betreuen, vor einem System der Profitmaximierung und Abzocke bei seniorengerechtem oder betreutem Wohnen und in der häuslichen Pflege und Heimunterbringung geschützt werden? Die nicht angemessene Gewinnmaximierung darf nicht zu Lasten und auf Kosten der Senioren, der Heimbewohner, Pflegekräfte und Pflegekasse gehen, die dafür zur Kasse gebeten werden.
Der Staat will zur Entlastung der Beitragszahler und Heimbewohner zwar jährlich eine Mrd. € Zuschuss in die Pflegekasse geben, so dass jedoch die Steuerzahler die überhöhten Gewinne der privaten Träger und Investoren damit absichern. Dennoch stößt der staatliche Zuschuss von 1 Mrd. € zugunsten der Senioren und Beitragszahler bei Liberalen und Unionsabgeordneten bereits auf Kritik, (anders als bei dem kürzlich problemlos aufgestockten Militäretat um 1,64 Mrd. € auf insgesamt über 53 Mrd. €). Weiter ist mit der Pflegereform vorgesehen, dass Anbieter, die keine fairen Tariflöhne zahlen, keine Versorgungsverträge mehr erhalten sollen, obwohl es gar keinen allgemeinverbindlichen bundesweiten Tarifvertrag gibt. Damit ist den meisten Pflegekräften jedoch weiterhin nicht gedient. Somit eine halbherzige Reform, die auch noch am Widerstand einiger lobbyhöriger Abgeordneter zu scheitern droht.
Die monetären Maßstäbe der Seniorenbetreuung
Das Geldverdienen mit Senioren- und Pflegeimmobilien und mit privaten Seniorenheimen boomt, und zahlungskräftige bis ahnungslose Bürger legen gerne ihr Geld dort gewinnbringend an – denn wo bekommen sie sonst 3 bis 5% Rendite auf ihr angelegtes Geld? Für die vielen kommerziellen Betreiber der Wohnanlagen und Betreuungseinrichtungen bedeutet dies ein betriebswirtschaftliches Diktat im Alltagsbetrieb – mit verheerenden Folgen und sozialen Katastrophen. Wie können diese verhindert werden?
Diese Frage wird immer drängender mit Blick darauf, dass in wenigen Jahren allein in den Ruhrgebietsstädten über 2 Mio. ältere Menschen pflegebedürftig sein werden und in manchen Stadtteilen dort bereits Dreiviertel der Bevölkerung über 60 Jahre alt ist. In Haltern werden demnächst 45% der Bewohner im Seniorenalter über 60 Jahren sein.
Welches sind unter diesen Bedingungen die Maßstäbe der Altenbetreuung? Können zwischenmenschliche Dienstleistungen der Daseinsvorsorge überhaupt wirtschaftlich rentabel sein oder sind sie nicht von ihrem Selbstverständnis her ein nicht dem Marktgeschehen zuzurechnendes „Zuschuss-Geschäft“ der Solidargemeinschaft, dienen sie doch der Sicherung der Menschenrechte und der Menschenwürde. Diese lassen sich nicht in Geld aufwiegen lassen, weil sie von viel größerem Gewicht sind für das Wohlergehen einer menschlichen Gemeinschaft, als sich monetär ausrechnen lässt.
Betriebswirtschaftliches Diktat zu Lasten menschenwürdiger Pflege
Lassen sich zwischenmenschliche Dienstleistungen nach den gleichen ökonomischen Prinzipien regeln wie die wirtschaftliche Optimierung der Warenproduktion in einem privaten Industriebetrieb oder in einer kommerziellen Einrichtung? Welches Kostenlimit wird beispielsweise für ein Menschenleben im Altenheim oder in der „Seniorenresidenz“ angesetzt und kalkuliert, damit die Menschenwürde noch gewahrt bleibt – sofern sie im betriebswirtschaftlichen Kalkül überhaupt vorkommt?
Blicken wir einige Jahre zurück auf den fast schon wieder vergessenen bundesweiten Skandal, der im Jahr 2004 zutage trat und die Republik erschütterte – ohne bis heute überall wirkliche Abhilfe zu schaffen: Wochenlang wurde der Öffentlichkeit durch erschütternde Presseberichte über die Zustände in der Altenpflege drastisch vor Augen geführt, wohin es führen kann, wenn soziale Dienstleistungen ausschließlich nach rein betriebswirtschaftlichen Vorgaben organisiert werden und der Mensch dadurch entweder zu einem lästigen Kostenfaktor degradiert oder als gewinnversprechende Einnahmequelle einkalkuliert wird – immer häufiger mit Todesfolge.
„Größte soziale und humanitäre Katastrophe seit dem Weltkrieg“
Die medizinischen Dienste der Krankenkassen hatten ermittelt, dass mehr als die Hälfte der Altenheimbewohner in Deutschland mangel-, fehl- oder unterernährt seien; ein Drittel der künstlich ernährten Heimbewohner würden trotz der künstlichen Ernährung verhungern. Nach Schätzung des Sozialverbandes Deutschland (SoVD) sterben mindestens 10.000 Menschen an mangelhafter Versorgung. Viele Todesopfer gehen auf Liegegeschwüre zurück, von denen 30% der Bettlägerigen betroffen seien. Die Vertreter der Organisation sprachen deshalb von der größten sozialen und humanitären Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg. (Manche Mängel in der häuslichen Pflege durch private Pflegekonzerne sind damit nicht einmal angesprochen).
Die Spitzenverbände der Krankenkassen bestätigten gegenüber Zweiflern, dass es sich bei den angesprochenen Problemen nicht um Einzelfälle handeln würde. Vielfach fehle die Zeit, die alten Menschen zu füttern oder mit ihnen zur Toilette zu gehen. Wer aber kalkuliert und bestimmt die Zeitaufwendung für die Betreuung der alten Menschen nach welchen Gesichtspunkten und unter welchem Menschenbild? Können öffentliche Dienstleistungen überhaupt wirtschaftlich rentabel sein oder sind sie nicht von ihrem Selbstverständnis her ein nicht dem Wirtschaftsleben zuzurechnendes „Zuschuss-Geschäft“ der Solidargemeinschaft, dienen sie doch der Sicherung der Menschenrechte und der Menschenwürde.
Reformvorschläge zur Pflegeversicherung unzureichend
Mit einer völlig unzureichenden Pflegeversicherung ist seinerzeit eine vermeintliche Problemlösung in finanzieller Hinsicht und zur Versorgungssicherheit anvisiert worden, die heute das gesamte Dilemma offenbart, das nur scheinbar etwas mit der vielzitierten demografischen Entwicklung zu tun hat. In früheren Zeiten des Kinderreichtums mussten auch wenige Erwerbstätige viele Abhängige mit „durchziehen“, so dass es sich um kein Problem der statistischen Alterspyramide oder Altersgruppen handelt, sondern der sozialen Verantwortung bei allen Entscheidungen und Verteilungsfragen.
Tatsächlich erleben wir immer häufiger die gesellschaftlich geradezu kaltblütige und herzlose Vernachlässigung der alten pflegebedürftigen Menschen in öffentlichen wie privaten Heimen – einerseits durch die vom selbst verursachten Spar- und Kostendruck fehl geleitete soziale Gemeinschaft, andererseits durch das große lukrative Geschäft mit der Altenpflege und -betreuung in luxuriösen privaten Seniorenresidenzen durch Geldanleger andererseits. Beiden Heimkonzepten liegt systembedingt die gleiche Menschen verachtende Gesinnung vielfach zu Grunde, die ein Altwerden in Würde und Respekt erschwert und den wertvollen Beitrag der alternden Menschen für die Zukunftsentwicklung einer humanen menschlichen Gesellschaft als Ganzes verkennt. Das betriebswirtschaftliche Diktat an falscher Stelle führt zu sozialen Katastrophen.
Eine humanitäre Herausforderung für die gesamte alternde Gesellschaft
Die „Schuldvorwürfe“ treffen nicht die sich zumeist liebevoll und mühevoll aufopfernden Altenpflegerinnen und Altenpfleger, die trotz der ihnen gesetzten, oft nicht einzuhaltenden Vorgaben und widriger Arbeitsumstände wie Personalmangel sowie trotz niedriger Entlohnung ihr Bestes bei der Betreuung der ihnen anvertrauten Menschen geben, Und das geschieht im engen Korsett der „Pflegerichtlinien“, „Heimvorschriften“, „Dienstpläne“ und gesellschaftlich gebilligten Finanzierungsregelungen für die Altenpflege und die Heimleitungen. Auch lassen sich die Vorwürfe nicht verallgemeinern und die positiven Ausnahmen und die vorbildlichen Pflegeheime sind in die Gesamtbetrachtungen einzubeziehen. Doch längst geht es nicht mehr nur um „schwarze Schafe“ unter den Heimbetreibern und die gesellschaftlich vorgegebenen Finanzrestriktionen, auch nicht nur um die zuwendende oder abweisende Haltung der unmittelbaren Angehörigen und deren Mitverantwortung, sondern um ein gesellschaftliches Phänomen unserer Zeit.
Unsere alternde Gesellschaft hat ein krankhaftes Verhältnis sowohl zu ihren Kindern, indem sie Kinderreichtum in Kinderarmut verwandelt, als auch zu ihren ganz Alten, zu denen in Kürze die Mehrzahl gehören wird, denn alt zu werden steht als Zukunft jedem Lebenden vor Augen – aber es bereitet Angst in Anbetracht der gesellschaftlichen Zustände. Mit der Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse als gesellschaftliche Verirrung gerät die menschliche Biografie des einzelnen Menschen zu einem Spießroutenlauf auf einem sozialen Katastrophenschauplatz mit menschlichen Tragödien, letztlich zum Untergang einer ganzen Gemeinschaft im „Land der Alten“, dem es an Altersweisheit mangelt. Wie könnte dieser Zustand verändert werden, um den alternden Menschen und damit der menschlichen Gemeinschaft insgesamt eine Perspektive zu geben?
Pflegereform: Ein parteiübergreifendes Thema für die Bundestagswahl
Das zu erörtern, reicht weit über die Halterner Grenzen hinaus bis in die Bundespolitik, die bei der Pflegereform noch viel mehr als nur die Pflegebeiträge und tarifliche Bezahlung der Pflegekräfte in den Blick nehmen müsste. Ein dankbares (parteiübergreifendes) Thema für die Bundestagswahl?
Wilhelm Neurohr
Autor:Wilhelm Neurohr aus Haltern | |
Webseite von Wilhelm Neurohr |
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