Erweiterte Busangebote der Vestischen:
Geht der ländliche Raum Haltern leer aus bei der „Nahverkehrswende“ im Kreis Recklinghausen?
KREIS RECKLINGHAUSEN. Mitte Juli legte das Nahverkehrsunternehmen „Vestische“ seine ÖPNV-Angebote für eine „Nahverkehrswende“ vor, indem es das Streckennetz der Buslinien bis 2030 um 15% auf 2,8 Mio. Buskilometer erweitert und den Radverkehr mit wichtigen Buslinien verknüpft. Mit der geplanten Investition von 6,8 Mio. € jährlich sollen 20 Millionen neue Fahrgäste auf den Buslinien gewonnen und Mehreinnahmen von 3 Mio. € erzielt sowie 120 neue Arbeitsplätze im Fahrdienst eingerichtet werden. Erhofft werden dazu Fördergelder von Land und Bund. Das letzte Wort haben die Politiker im Kreis, da die Verluste subventioniert werden müssen. Zuletzt hatte die CDU-Kreistagsfraktion aus Sorge um eine Erhöhung der Kreisumlage höhere Investitionen in den ÖPNV und Radverkehr über den „Vestischen Klimapakt“ hinaus abgelehnt.
Die zusätzlichen Buskilometer, Taktverdichtungen, neuen XBus-Linien und Beschleunigungsmaßnahmen beschränken sich jedoch auf die schon jetzt gut vernetzten Städte im Ballungsraum der Emscher-Lippe-Region. Nördlich der Lippe geht die ländliche Touristenstadt Haltern mit ihren 7 Dörfern bei der Verbesserung des Bus- und Radverkehrs im Rahmen der „Verkehrswende“ im Kreisgebiet nahezu leer aus – trotz 3 Mio. Besuchern jährlich und fast 40.000 Bewohnern sowie entgegen allen vollmundigen Wahlkampfversprechungen der Politiker zugunsten der vernachlässigten ländlichen Räume.
Allenfalls werden für die weniger stark besiedelten Gebiete Bedarfsverkehre wie Taxibus oder Anrufsammeltaxi von der Vestischen erwogen – in anderen Landkreisen ein „alter Hut“. Vorbildhaft ist das Pilotprojekt der Stadt Münster mit ihren ländlichen Ortsteilen mittels „Hochleistungs-ÖPNV“.
Bevorzugt werden im Busverkehr des Emscher-Lippe-Raumes nach den Plänen der Vestischen vor allem die schon jetzt gut verbundenen und dicht besiedelten Städte Recklinghausen, Herten, Marl, Gladbeck, Castrop-Rauxel, Buer sowie das Ostvest und Dorsten auf den profitablen Streckenabschnitten. Die Vertröstung der übergangenen Stadt Haltern wegen ihrer vorhandenen ÖPNV-Anbindung an den (nur selten zuverlässigen) Schienenverkehr geht ins Leere, seitdem am Bahnhof Sythen der RE 2 nicht mehr hält und am Bahnhof Haltern der Service-Schalter geschlossen wurde sowie die S-Bahn nur gelegentlich verkehrt.
Obwohl die Halterner Bürgerinnen und Bürger bereits zu den letzten Nahverkehrsplänen des Kreises und der Vestischen sowie auch zu den regionalen Radverkehrskonzepten zahlreiche Verbesserungsvorschläge eingereicht hatten, blieben diese fast vollständig unberücksichtigt oder wurden in der Prioritätenliste nach ganz hinten verschoben. An den heißen Sommertagen war deshalb zu beobachten, wie zahlreiche nicht motorisierte Badegäste des Silbersees auf der Mehrzweckspur entlang der vielbefahrenen Münsterstraße mangels Busangeboten kilometerlang zu Fuß nach Sythen, Dülmen oder Haltern bei 38 Grad Celsius entlang marschierten.
Mobilitäts-Defizite in Haltern als Ärgernis für Bürgerinnen und Bürger
Aus der grünen Ratsfraktion kommt die Kritik, dass in den letzten 20 Jahren kein Meter neuer Radweg in Haltern gebaut worden sei. (Viele Halterner vermissen ein stärkeres Engagement des Landrates als ehemaliger Halterner Bürgermeister in seiner Heimatstadt für den ÖPNV und Radwegebau an Kreisstraßen in Haltern.) Zuletzt wurde eine Fülle an Ideen aus der Bürgerschaft im Rahmen des Leader-Förderprogramms Hohe Mark auch zum ÖPNV im ländlichen Raum und zum Radwegebau vorgebracht, von denen wohl nur ganz wenige realisiert werden. Besonders betroffen ist vor allem das Dorf Lavesum mit seinen über 1.700 Einwohnern (demnächst mit dem Baugebiet Schafstall bis 2000 EW). Hier verkehrt der Bus zur Stadt Haltern auch in Zukunft nur im Stundentakt, mittags mit 2-Stunden Abstand) und im Winterhalbjahr ist die Feuerwache am Talweg die Endstation, so dass die Ortschaft Lochtrup gar nicht angebunden ist, entgegen den Zusagen im Nahverkehrsplan.
Es ist unhaltbar, dass für die Lavesumer keines der unmittelbaren Nachbardörfer mit dem Bus direkt erreichbar ist, weder Sythen oder Lippramsdorf, noch Klein-Reken oder Merfeld. Eine Direktverbindung nach Sythen wurde bereits im Nahverkehrsplan aus der Bürgerschaft vergeblich gefordert, aber von der Stadt nicht unterstützt. Dabei wäre diese Verbindung jetzt erst recht dringlich, nachdem in Lavesum die komplette Infrastruktur des Dorfes weggebrochen ist: Die Sparkassenfiliale (nicht einmal ein Geldautomat blieb am Ort), die einzige Dorfgaststätte („Eggeberecht“), das zentrale Restaurant und Cafe („Biko-Markt“), der Kiosk mit Paketannahme („Annes Dorfladen“ im Kastanienhof), der Hofladen mit Imbiss (Enstrop), das Restaurant („Tannenhäuschen“ nur noch für Events). Für die Fahrt ersatzweise zu den Supermärkten und Läden im benachbarten Ortsteil Sythen (dort gibt es Apotheke, Sparkassen, Bäckerei, Metzgerei, Blumenladen, Reinigung, Eisdiele, Café etc.) oder alternativ in die Gewerbegebiete der Stadt sind die Lavesumer auf den PKW angewiesen. Für die Senioren in der Wohnanlage Kastanienhof, die mit der dörflichen Infrastruktur hergelockt wurden, ist das politische Mobilitätsversprechen wertlos.
Bürgerengagement für eine Verkehrswende in den Dörfern unerwünscht?
Auch die Initiative aus dem Münsterland für eine Schnellbusverbindung zwischen Hullern und dem Nachbardorf Seppenrade sowie der Nachbarstadt Lüdinghausen wird von der "Vestischen" blockiert.
Nicht ohne Grund hat die „autogerechte“ Stadt Haltern den höchsten KFZ-Besatz im Städtevergleich der Region, weit über dem Bundesdurchschnitt, obwohl die Halbierung des Autoverkehrs bis 2035 im Rahmen der Verkehrswende angesagt wäre. Die Dorfbewohner bleiben auf den PKW angewiesen. Schon die Haushaltsbefragung zur Mobilität 2019 ergab, dass Haltern – anders als andere Städte – einen deutlich steigerungsfähigen ÖPNV-Anteil und einen seit Jahrzehnten gleichbleibenden statt steigenden Anteil an Fuß-und Radverkehr aufweist. Ein nennenswerter Beitrag für die Mobilitäts- und Verkehrswende ist nicht erkennbar, auch wenn nunmehr mit dem Innenstadt-Verkehrskonzept mitsamt Bürgerbeteiligung endlich ein Anfang gemacht wird. In den Dörfern wie Lavesum wird hingegen der Radwegeausbau z.B. an der gefährlichen Granatstraße nach Lippramsdorf und Klein-Reken in die hinterste Priorität auf St. Nimmerleinstag verschoben.
Auch die Lavesumer Bürgerinitiative für den überfälligen Radweg entlang der Merfelder Straße in Lavesum musste trotz vierstelliger Unterschriftensammlung nach 10-jährigem Bemühen erfahren, dass der Bürgermeister (und heutige Landrat) ebenso wie der dominante, aber untätige CDU-Ortsverein den Radweg an der Kreisstraße für entbehrlich halten, weil die CDU-Regierungspräsidentin 3 Tage vor der letzte Kommunalwahl stattdessen die alte Panzerstraße im ehemaligen Militärgelände für Radfahrer in Richtung nach Reken-Hülsten (also in eine ganz andere Richtung) als Wahlgeschenk freigegeben hatte... So fühlen sich die Dorfbewohner nicht ernst genommen, deren Vorschläge z. B. auch zur Geschwindigkeitsbegrenzung auf der stark befahrenen Landstraße im Abschnitt Lochtrup ins Gegenteil verkehrt und mit Tempo 70 beantwortet wurde. Vorrang für den motorisierten Verkehr und freie Fahrt für freie Bürger? Aber kein Fußgängerüberweg und keine Bushaltestelle im Winterhalbjahr?
Fehlendes Engagement der Stadt für ihre Dörfer
Sogar der Automobilclub ACE plädiert für eine „Verkehrswende jetzt“ und gibt hierzu Tipps für einen sozial und gerecht gestalteten Verkehr in ländlichen Regionen. Die Erreichbarkeit der Dörfer mit dem ÖPNV zu erschwinglichen Preisen, der Regelbetrieb von Shuttle-Bussen u. a. m. wird für unabdingbar gehalten, wobei pfiffige Eigenlösungen der Bewohner wie z.B. „Mitfahrbänke“ kein ausgereiftes Verkehrskonzept ersetzen können. Eine intelligent gesteuerte Mobilität auf Abruf (Rufbusse und –taxen etc.) findet im ländlichen Raum kaum statt. Die Stadt Münster hat hingegen für ihre ländlichen Ortsteile mittels App abrufbare Kleinbusse mit bedarfsgerechten Routen eingeplant.
Die Stadt Haltern engagiert sich nicht wirklich für ihre Dörfer, außer bei flächenzehrenden Bauprojekten dort im Grünen, sondern verweist auf die notwendige Eigeninitiative der Bürger. Doch deren umfassenden Vorschläge für ein Dorfentwicklungskonzept (mit Vorschlägen auch zum ÖPNV und Radwegebau) wurden vor 2 Jahren im Rathaus kommentarlos und ohne jede Reaktion ad acta gelegt. (Der vorhandene Flächennutzungsplan erübrige ein Dorfentwicklungskonzept, so hieß es). Ebenso abgeschmettert wurde der Vorschlag für einen Dorfpark und für ein Bürgerhaus in einer vorhandenen Immobilie. Und die versprochene Durchführung der in 2 Dörfern bereits begonnenen „Ortsteilforen“ nunmehr auch in Lavesum wurde ausgesetzt, weil der Baudezernent laut Presse ein bloßes „Wunschkonzert“ der Dorfbewohner befürchtete. Dagegen heißt es im Kommunalwahlprogramm der Halterner CDU: "Haltern braucht starke Ortsteile", deshalb sollen die Ideen der Bürger mit Weiterführung der Ortsteilforen abgefragt werden. Darauf warten die Lavesumer seit 2 jahren vergeblich. Über die verbesserte ÖPNV-Anbindung der dörflichen Ortsteile wird also wohl im Rathaus kaum nachgedacht. Die Bewohner der Dörfer sollen sich gefälligst selber um ihre Infrastruktur bemühen, die Stadtbewohner werden aus dem Rathaus verwöhnt. So erfolgt in Haltern eine Unterteilung in Bürger erster und zweiter Klasse?
Leere Wahlversprechen zu Verbesserungen im ländlichen Raum
Noch im letzten Wahljahr hatten sich alle Parteien von der Bundes- und Landesebene über die Kreis- und Ortsebene für verbesserte Mobilität im ländlichen Raum ausgesprochen: „Im ländlichen Raum darf niemand ohne Auto abgehängt werden“, so heißt es im Wahlprogramm der grünen Bundespartei. Versprochen wird sogar eine „Mobilitätsgarantie“ auch für den ländlichen Raum mit gesetzlich definierten Standards für die Erreichbarkeit und Erschließung durch ein gutes ÖPNV-Angebot. „Wir stellen nachhaltige Mobilität in den Mittelpunkt unserer Politik. Wir wollen ein attraktives Bahn- und Busangebot und hochwertige Radwegenetze mit einem lückenlosen Fahrradnetz“. Die SPD-Bundestagsfraktion hat im Mai 2022 ein Konzept zur Mobilität im ländlichen Raum vorgelegt, die alle Menschen, auch im ländlichen Raum, unabhängig vom Wohnort einbezieht. Und die CDU betont in ihrem Wahlprogramm, dass individuelle Mobilität ein wichtiger Aspekt der persönlichen Freiheit sei. Deshalb seien insbesondere in ländlichen Regionen die Mobilität und gute Erreichbarkeit eine neue Herausforderung.
Eine unterschiedliche Qualität der ÖPNV-Anbindung in Stadt und Land wäre sogar Gesetzes- und verfassungswidrig. Der Artikel 72(2) des Grundgesetzes garantiert die Herstellung „gleichwertiger Lebensverhältnisse in Stadt und Land“ als Grundrecht. Die Verantwortung für „die Fläche“ ist ein Kernelement des Sozialstaates (Artikel 20 GG). Und das Bundesraumordnungsgesetz konkretisiert gleich im ersten Grundsatz: „Im Gesamtraum der Bundesrepublik Deutschland und in seinen Teilräumen sind ausgeglichene soziale, infrastrukturelle, wirtschaftliche, ökologische und kulturelle Verhältnisse anzustreben. (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 ROG). Länderverfassungen und Landesplanungsgesetze zitieren diese Verpflichtung ihrerseits und bekennen sich zu einer entsprechenden Strukturpolitik und Entwicklung ihres Landesgebietes auch in der Verkehrspolitik.
Doch Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander, wenn Orts- und Kreispolitiker diese Anregungen und Verpflichtung nicht ernst nehmen und ihre verödenden Dörfer und deren Bewohner vernachlässigen oder regelrecht im Stich lassen. Über die Kreisumlage im städtischen Haushalt dürfen die Halterner aber die Nahverkehrswende in den bevorzugten Nachbarstädten mitfinanzieren...
Wilhelm Neurohr, Juli 2022
>>> siehe auch:
https://www.lokalkompass.de/haltern/c-politik/wie-gelingt-die-klimaneutrale-mobilitaetswende-in-haltern_a1479617
Autor:Wilhelm Neurohr aus Haltern | |
Webseite von Wilhelm Neurohr |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.