Charlie Hebdo: Ein Dorstener beim Marsch der Solidarität
Die Angriffe auf das Satiremagazin Charlie Hebdo und die Geiselnahme in einem jüdischen Supermarkt haben in der vergangenen Woche Geschichte geschrieben. Es sind Ereignisse voller Hass und Gewalt, Stunden der Ungewissheit, aber auch des Zusammenhalts und des Mutes, die schließlich in einer der größten Demonstrationen der Solidarität in der europäischen Geschichte mündeten. Ein Student aus Dorsten erlebte die Stimmung in Paris während der dramatischen Ereignisse hautnah mit.
Seit einigen Monaten arbeitet der Dorstener als Student in einem Universitätsgebäude in der Pariser Innenstadt. Von Beginn an war er fasziniert von dem kulturellen Reichtum der französischen Hauptstadt und nutzte jede freie Minute, um durch die Museen und Sehenswürdigkeiten zu streifen – eine Traumstadt für den angehenden Wissenschaftler. Doch hätte er sich nicht träumen lassen, wie sich die Stimmung bereits an seinem ersten Arbeitstag nach der Weihnachtspause ändern würde. Es war der 7. Januar 2015, ein Tag, der blutige Geschichte schreiben sollte.
7. Januar: Schüsse auf die Pressefreiheit
Gegen Mittag, kurz nachdem die Brüder Kouachi elf Menschen ermordet hatten, verbreitete sich die Nachricht bereits wie ein Lauffeuer. Auch im Unilabor, wo der junge Westfale und seine Kollegen arbeiteten, schlug die schreckliche Neuigkeit wie eine Bombe ein. Da es am Abend eine Trauerkundgebung am Place de la République geben sollte, machte sich auch der Deutsche dorthin auf. „Ich bin nach der Arbeit zur Place de la République gefahren, als die Kundgebung schon begonnen hatte.
An der Métro Station République angekommen, waren überall schon grosse Menschenmassen, überall Polizisten. Ich bin dann ein paar Minuten auf dem Platz geblieben. Schon zu diesem Zeitpunkt zeigten zahlreiche Menschen Schilder mit der Aufschrift ‚Je suis Charlie‘ [Ich bin Charlie]. Ich hatte den Eindruck, dass vor allem junge Leute, vor allem Studenten, gekommen waren.“
Das mulmige Gefühl aber blieb, und so zog es den jungen Akademiker doch nach Hause: „Ich bin dann aber nicht so lange geblieben, weil es mir zu eng war und auch nicht allzu sicher erschien, denn es war ja die höchste Terrorwarnstufe ausgegeben worden und die Behörden hatten die Leute dazu aufgerufen, lieber zu Hause zu bleiben.“
Auch das französische Fernsehen hatte wenig Beruhigendes zu berichten – noch immer waren die Täter auf der Flucht. Viele Pariser überlegten es sich daher sehr gut, ob sie am nächsten Tag zur Arbeit gehen sollten.
8. Januar: Eine Stadt im Ausnahmezustand
Unser Student entschied sich am nächsten Morgen dafür, noch immer tief berührt von den Trauerbekundungen am Anschlagsort und am Place de la République. Am Eingang zur Uni wurde er von Sicherheitskräften gefilzt, wie alle, die an diesem Tag ins Gebäude wollten. „Das gab es bei uns vorher nie, aber jetzt wollten die Sicherheitsleute von jedem Besucher den Uni-Ausweis sehen und die Tasche durchsuchen“, betonte er. War das wirklich nötig, schienen sich einige der Mitarbeiter zu fragen, wo die Täter doch bestimmt längst über alle Berge waren?
Doch die Realität sah anders aus, und sie schlug an diesem Morgen in der Gestalt des Islamisten Coulibaly zu. „Als eine Kollegin zur Arbeit erschien, berichtete sie von einer weiteren Schießerei, die unweit von ihrem Wohnort stattgefunden hatte“, so der Dorstener. Die Stadt der Liebe schien von immer neuen Hiobsbotschaften erschüttert zu werden – wieder waren Menschen verletzt und getötet worden. Aus dem beschaulichen Westfalen hatte es den jungen Mann an einen Brennpunkt des Weltgeschehens verschlagen, ohne dass er es hätte ahnen können. Noch immer waren mindestens drei Täter auf der Flucht, und die Situation völlig unklar.
„Dementsprechend war zu sehen und spüren, wie sich Paris im Ausnahmezustand befand“, berichtet der Dorstener. „Es war höchste Terrorwarnstufe ausgegeben worden, an allen Gebäudeeingängen befanden sich Schilder mit Warnhinweisen, und auch am Eingang zur Uni wurde man kontrolliert. Es war ein seltsames Gefühl, durch die Stadt zu laufen in dem Wissen, dass irgendwo da draußen noch die Täter lebten.“
9. Januar: Showdown mit den Spezialeinheiten
Am 9. Januar überschlugen sich die Ereignisse dann fast minütlich: Etwa zu der Zeit, als die Studenten in der Universität ihre Arbeit aufnahmen, verschanzten sich die Kouachi-Brüder nördlich von Paris in einer Druckerei. Der junge Deutsche erinnert sich noch genau: „Als ich am Morgen des 9. Januars zur Arbeit kam, waren nur wenige Kollegen dort. Einige waren, um die Geschehnisse zu verfolgen oder möglicherweise aus Vorsicht, zu Hause geblieben, und auch die Anwesenden hielten sich in den Nachrichten auf dem Laufenden. Schließlich verbreitete sich die Nachricht, dass die beiden Terroristen aufgespürt worden seien und sich mit einer oder möglicherweise mehreren Geiseln in einer Fabrik verschanzt hätten.“ Kein Wunder, dass sich in diesen Stunden kaum jemand wirklich auf Labortätigkeiten und Analysen konzentrieren konnte, zumal mit der Geiselnahme in einem jüdischen Supermarkt gegen Mittag noch ein letzter, tragischer Schauplatz eröffnet wurde.
Als sich dann kurz nach 17 Uhr der Rauch verzogen hatte, lagen alle drei Terroristen an unterschiedlichen Orten in ihrem Blut. Die Pariser waren erleichtert, aber noch immer war Unsicherheit spürbar. Waren wirklich alle Täter unschädlich gemacht worden? Was war mit etwaigen Komplizen? „Ich fühlte mich wie in einem Krimi“, empfand es der Zeuge aus der Lippestadt, „nur dass es traurige Realität war.“
11. Januar: Historisches Signal der Solidarität
Doch die Terroristen hatten den Willen und den Zusammenhalt der Menschen nicht brechen können. Am Sonntag, 11. Januar, versammelten sich rund anderthalb Millionen Menschen zu einem Trauermarsch. Eine so große Demonstration hatte es in Paris seit dem Ende des Krieges nicht mehr gegeben.
Der Dorstener schildert das Ereignis so:
„Da große Menschenmassen prognostiziert wurden machte ich mich schon früh auf dem Weg zur Place de la République. Bereits zwei Stunden vorher jedoch waren die Métros schon gnadenlos überfüllt. Außerdem waren einige Stationen geschlossen, wie die von Place de la République selbst, und deswegen kostete es einige Mühen dorthin zu gelangen. Aus der Métro ausgestiegen, fand ich mich in einer riesigen Menschenmenge auf dem Weg zum Place de la République wieder. Ich schob mich nach vorne zur Mitte des Platzes, der von einer großen Statue dominiert wird, welche von vielen Demonstranten besetzt wurde.
Da stand ich nun inmitten von Tausenden Menschen, die auf den Beginn des Marsches warteten. Es war ein einziges Meer aus Flaggen, Plakaten, und aufgebrachten Menschen, die wie aus einer Kehle Rufe wie ‚Qui sommes nous? Nous sommes Charlie‘ [Wer sind wir? Wir sind Charlie] skandierten. Es schien als hätte die ganze Stadt sich dort versammelt. Die Menschen hatten Plakate vorbereitet, hielten Stifte als Symbol in der Hand, einige hatten riesige Stifte Pappe gebaut und diese mit Worten wie ‚Not afraid‘ [Keine Angst] beschriftet. Am Rand des Platzes tummelten sich die Journalistenwagen, die ganze Welt schien in diesem Augenblick hierhin zu schauen.
Für mich war es überwältigend in dieser Menschenmasse zu stehen. Ich hatte den Eindruck, als entlüden sich hier all die Trauer und das Entsetzen der vergangenen Tage in einer mächtigen Reaktion des Trotzes, des Zusammenhaltes und des Stolzes auf europäische Werte. Es ging mir emotional sehr nahe. Was mich besonders beeindruckte, war die Zahl der muslimischen Demonstranten, welche mit Plakaten wie ‚Je suis Musulmane, je suis Charlie‘ ihrer Solidarität Ausdruck verliehen, bzw. die religiöse und nationale Vielfalt generell. Nationalitäten und Religionen schienen in dem Moment keine Rolle zu spielen. Ich konnte mir vorstellen, dass viele der Anwesenden auch gegen die Karikaturen von Charlie Hebdo auf die Straße gehen würden, und trotzdem demonstrierten sie dafür, dass Meinungen wie diese frei geäußert werden können.
Für eine Gänsehaut sorgte, wenn die Menge wie aus einem Mund die französische Nationalhymne zu singen begannen. Das Gefühl, in diesem Moment Teil der Pariser zu sein, war für mich einzigartig und unbeschreiblich. Für mich war die ganze Veranstaltung eine Hymne an die Toleranz und an die Vielfältigkeit. Es machte mich sehr stolz, an dieser historischen Versammlung teilnehmen zu dürfen.“
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Weitere Bilder und Eindrücke finden Sie hier:
Autor:Oliver Borgwardt aus Dorsten |
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