Armutsbericht 2021 des Wohlfahrtsverbandes
Armut in Deutschland auf Höchststand – Keine Reaktion der politisch Verantwortlichen

Foto: deutschlandfunkkultur.de

Eine Woche vor Weihnachten veröffentlichte der Paritätische Wohlfahrtsverband seinen jährlichen Armutsbericht von 2021: Die Armutsquote ist im Pandemiejahr 2020 auf ein trauriges Rekordniveau von bundesweit 16,1 % gestiegen, in 5 Bundesländern sogar über 20%. Über 13 Millionen Menschen leben in Deutschland in Armut, insbesondere Erwerbslose (52%), Kinderreiche (31%) und Alleinerziehende (40,5 %) sowie Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen (31%) – also weiterhin im Lebenslauf verfestigte Armut. Schon seit 20 Jahren steigt die Armutsquote im reichen Deutschland Jahr für Jahr ungebremst. Folglich wachsen auch die Schlangen vor Suppenküchen und Tafeln zur Armenspeisung hierzulande ebenso wie die Obdachlosigkeit. Eine Reaktion der politisch Verantwortlichen in alter und neuer Regierung auf den aktuellen Bericht blieb aus. Das Schweigen der politisch Verantwortlichen zu diesem anhaltenden sozialen Skandal zeugt von sozialer Kälte statt von „sozialer Transformation“.

Soziale Kälte: Skandalöse Sozialpolitik der letzten 20 Jahre

Das skandalöse sozialpolitische Ergebnis von 16 Jahren Merkel-Regierung, davon 12 Jahre als große Koalition mit der SPD, wurde zum Abschied der Kanzlerin ausgeblendet oder schön geredet. Selber sprach sie in ihrer vorletzten Regierungserklärung zwar davon, dass „Kinderarmut eine Schande für unser reiches Land sei“ und sie als politisch Verantwortliche das (von ihrer Regierung ausgesessene und verschärfte) Problem noch vor Ende ihrer Amtsperiode anpacken würde – jedoch Fehlanzeige. Und das Versprechen der neuen Ampelkoalition, die ökologische Herausforderung fortan mit der sozialen Frage zu verbinden, kann allein mit dem Mindestlohn und der finanziell noch unausgegorener Kindergrundsicherung nicht eingehalten werden. Die Alters- und Kinderarmut in diesem reichen Land zu senken, bedürfte der gleichen Priorität wie die Bekämpfung der Pandemie und der Klimakatastrophe.

Pandemie hat lange angelegte Armutsrisiken sichtbar gemacht

Für die von der Armut Betroffenen, deren Zahl weiter wächst, war bereits die letzte rot-grüne Bundesregierung um die Jahrhundertwende ein Alptraum, denn laut OECD begann mit ihr bereits ab 2000 der soziale Abstieg von Millionen Menschen in Deutschland. Inzwischen fallen über 16% der Bevölkerung unter die Armutsgrenze Die Regierungsbeteiligung der unverändert neoliberalen FDP lässt keine soziale Umkehr zu. Die Hauptursache und Verschärfung des Armutsproblems nunmehr allein auf die Pandemie zu schieben, ist unredlich, auch wenn aktuell viele Selbständige seither zusätzlich in die Armut abgerutscht sind mit einem Anstieg von 4%. Die Pandemie hat aber lediglich lange angelegte Armutsrisiken sichtbar gemacht. „Einmal arm, immer arm, das ist für immer mehr Menschen eine reale Bedrohung“, bemerkt die Caritas-Präsidentin.

Ampel ohne überzeugende Antwort auf die harten sozialen Fragen

Es fehlt der politische Wille, soziale Sicherheit und Gerechtigkeit sowie soziale Umverteilung durch gerechte Steuerpolitik wirklich anzupacken. Das bloße Versprechen des neuen Bundeskanzlers Olaf Scholz, „alle mitzunehmen“, reicht nicht aus. Nur wenige Maßnahmen im Koalitionsvertrag der Ampel sind geeignet, Einkommensarmut wirkungsvoll zu bekämpfen. „Denn die Ampel hat auf harte materielle und soziale Fragen, wie steigende Mieten, Armut im Alter, niedrige Löhne und prekäre Beschäftigung nur unzureichende Antworten“ wie die taz kommentiert. Der als Fortschritt gepriesene Mindestlohn von 12 € garantiert auch nach 45 Jahren Vollzeitbeschäftigung keinen Schutz vor Armut. Befristungen ohne Sachgrund und Jobs ohne Tarifverträge bleiben weiterhin erlaubt und damit prekäre Arbeitsverhältnisse weiterhin gewollt.

Anhebung der Regelsätze in der Grundsicherung unverzichtbar

Ohne eine bedarfsgerechte Anhebung der Regelsätze in der Grundsicherung trete keine Verbesserung bei der Armutsproblematik ein, argumentiert der Paritätische Wohlfahrtsverband als Forderung: „Der Regelsatz ist und bleibt die zentrale Stellgröße im Kampf gegen die Armut und für den Zusammenhalt dieser Gesellschaft. Wer dies ignoriert, wird keine erfolgreiche Armutspolitik machen können. Wir appellieren dringend an die Bundesregierung, hier nicht weitere vier Jahre tatenlos zu bleiben”. Doch das Ampel-Koalitionspier bleibt in dieser Frage unkonkret.

Bezahlbares Wohnen bleibt trotz Wohnungsbauaktivitäten ein frommer Wunsch

Und die Verlängerung der wirkungslosen Mietpreisbremse wird kaum für bezahlbares Wohnen sorgen sowie der Bau von 100.000 Sozialwohnungen wird den Bedarf nicht wirklich ausgleichen (zumal sich CDU-regierte Städte wie Haltern vor Ort dem komplett verweigern). Rund 3 Millionen einstige Sozialwohnungen sind aus der Sozialbindung herausgefallen oder umgewandelt worden, so dass der Bestand an Sozialwohnungen von 4 Mio. auf 1 Mio. abgesunken ist. Die von der Ampel geplanten 100.000 Ersatzwohnungen sind da nur der berühmte "Tropfen auf dem heißen Stein".

Über die im Koalitionsvertrag vorgesehenen linearen Abschreibungen bei neu gebauten Mietwohnungen als Steuergeschenk freuen sich vor allem die Immobilienbesitzer, deren Verkaufserlöse nach 10 Jahren sogar komplett steuerfrei bleiben. Auch von der „Aktienrente“ werden in Wirklichkeit die Vermögenden durch steigende Aktienkurse an den Finanzmärkten profitieren. Hier bedient die dominierende FDP in der Ampel wieder einmal ihre Klientel. Jeder vierte Mieterhaushalt ist laut Armutsbericht armutsgefährdet. Damit ist die sogenannte Armutsrisikoquote unter Mietern etwa doppelt so hoch wie bei Immobilienbesitzern.

Von der Opposition wenig Nachdruck für die sozialen Fragen zu erwarten

Mit der aktuellen Mitgliederentscheidung der CDU als größter Oppositionspartei im Bundestag zugunsten des neuen Vorsitzenden Friedrich Merz wird die soziale Frage nicht besonders glaubwürdig von dort vertreten, auch wenn der wohlhabende Wirtschaftslobbyist und jahrzehntelange Sozialstaatskritiker Friedrich Merz als begnadeter Populist plötzlich die „soziale Gerechtigkeit“ als politisches Schlagwort entdeckt hat.  (Die  letzten Jahre hat er als Multimillionär  ausschließlich damit verbracht, sich mit einem Dutzend Aufsichtsratsmandaten die eigenen Taschen vollzustopfen). Der Arbeitnehmerflügel der Union beklagte sich jedenfalls jüngst über die Dominanz des Wirtschaftsflügels in der Partei, der bekanntermaßen neoliberal ausgerichtet ist. (Siehe hierzu auch den Artikel in diesem Lokalkompass mit dem Titel: „Die „neue“ CDU des Friedrich Merz).

Von der Linkspartei als der eigentlichen Vertretung der sozialen Verlierer in diesem Land ist einstweilen keine wirksame Opposition zu erwarten, da sie nach ihrem Wahldesaster mit sich selbst beschäftigt ist und weiterhin ein zerrissenes Bild abgibt. Viele soziale Verlierer haben sich aus Protest der rechtsradikalen Wutbürgerpartei AfD zugewendet, von der erst Recht keine hilfreiche Opposition zu den sozialen Fragen im Bundestag zu erwarten ist. Die Gründung der so genannten „Alternative für Deutschland“ seinerzeit durch neoliberale Wirtschaftsprofessoren mit Unterstützung des langjährigen BDI-Präsidenten und Talkshow-Lieblings Olaf Henkel, hatte vor allem das versteckte Ziel, ein Abdriften der wachsenden Zahl frustrierter Sozialverlierer und Wutbürger zum linken Parteienspektrum zu verhindern und sie auf der rechten Seite aufzufangen, um die neoliberale Vorherrschaft nicht zu gefährden.

Ein Staat ohne soziale Gerechtigkeit wäre eine „Räuberbande“

Es bleibt somit nur der zivilgesellschaftliche und gewerkschaftliche Druck auf die Ampelregierung sowie der Einfluss der Sozialverbände. Die von Armut Betroffenen selber können kaum alleine für ihre Interessen kämpfen, da sie mit der Bewältigung ihres prekären Lebensalltags gefordert oder überfordert sind. Vielleicht muss wieder einmal mahnend an die Adresse der neuen Ampelregierung  der Hl. Augustinus als Staatsrechtslehrer zitiert werden: „Ein Staat, dem es an sozialer Gerechtigkeit mangelt, was ist der anderes als eine große Räuberbande.“

Wilhelm Neurohr

Autor:

Wilhelm Neurohr aus Haltern

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