Haltern 1988
Alternative Festschrift “Halternativ” erscheint
Vor 35 Jahren erschien die Festschrift: „Halternativ. Lesebuch zum 700jährigen Jubiläum der Stadt Haltern“.
Blicken wir zurück: Im Sommer 1989 feierten die Halterner den 700. Geburtstag ihrer Stadt. Bilder der Halterner Zeitung zeigen in einem Artikel (von 2023) einen festlichen Umzug mit Motivwagen und Marschformationen der Feuerwehr, der Schützen- und Heimatvereine, der Imker und der Holzschuhtanzgruppe, auch die Sparkasse und „Bauer Ewald“ fehlen nicht. (https://www.halternerzeitung.de/haltern/historisches-haltern-stadtgeburtstag-festumzug-jubilaeum-stadtrechte-w687814-p-3000699876/). Oder wie es in dem Zeitungsartikel formuliert wird: „Römer und Germanen, Landsknechte, Vertreter der Zünfte und viele weitere Bewohner des historischen Haltern gaben sich 1989 beim Festumzug ihr Stelldichein.“ Zudem beauftragte die Stadt Experten, die die Stadtgeschichte in einer umfangreichen, aufwändig gemachten Festschrift darstellten (Schulze-Althoff 1988; eine etwas ausführlichere Version dieses Beitrages mit genauere Quellenangaben, Fotos und Anmerkungen können Sie hier lesen: https://forumdrv.de/2023/07/17/halternativ/).
Manchen Halterner und Halternerinnen kam allerdings die Gegenwart und die jüngste Geschichte zu kurz. Um die Lücke zu schließen, erschien Ende 1988 eine andere Art von Festschrift mit dem Titel „Halternativ. Lesebuch zum 700jährigen Jubiläum der Stadt Haltern“. „Die Römer waren nicht alles“, schreiben die Herausgeber:innen Friedrich Halfmann, Irene Stock und Martin Tochtrop.
Halternativ-Lesebuch zur kostenlosen Download:
Halfmann, Friedrich; Stock, Irene; Tochtrop, Martin (Hg.) (1988): Halternativ. Lesebuch zum 700jährigen Jubiläum der Stadt Haltern. Haltern (am See): Selbstverlag.
Hier geht's zur Download-Seite.
„Eine Bedienungsanleitung für Optimisten, Demokraten, Weltverbesserer und Friedensbewegte … - das ist ‚HALTERNATIV‘.… Wir wollten bei der Idee einer ‚Festschrift von unten‘ jenes Engagement vorstellen, das Mut und Zivilcourage erfordert, das sich auf gesellschaftlich noch nicht allgemein anerkanntem Terrain bewegt, das politischen Widerstand beinhaltet, der noch nicht parteipolitisch kanalisiert und kirchlich gestützt ist. … (Wir) legten … ein Auswahlkriterium zugrunde: alle nicht parteilich organisierten und von keinem Verband aus der Taufe gehobenen Gruppen, die sich ‚von unten‘ für menschliche Belange einsetz(t)en, bekamen die Chance, sich selbst vorzustellen. ‚Halternativ‘ soll und will auf keinen Fall Mitbürger und Mitbürgerinnen beweihräuchern, die etwas mehr für die Allgemeinheit (und damit auch für sich selbst) tun als andere. Vielmehr beabsichtigen wir, noch mehr Halterner auf Mißstände hinzuweisen, sie wachzurütteln und sie von dem Freimut, der Zivilcourage und dem Engagement anstecken zu lassen. Denjenigen, die sich auf den folgenden Seiten repräsentiert fühlen, soll diese Schrift eine Bilanz sein, die Kraft gibt, WEITERZUKÄMPFEN.“ (Halfmann u.a. 1988: 5-7).
Man wollte Menschen, die sich einmischen, die Möglichkeit bieten, ihre Aktivitäten darzustellen, so sagen die Herausgeber in einem Gespräch mit dem Verfasser dieses Artikels. Die Befürchtung, nicht genügend Resonanz zu finden und womöglich auf den Druckkosten sitzenzubleiben, bewahrheitete sich nicht. Ein ganzes Jahr Arbeit zeigte Erfolg. 1000 Exemplare wurden gedruckt und zu einem Preis von 8 DM pro Lesebuch verkauft. Werbeanzeigen trugen zur Finanzierung bei. Zur Buchvorstellung Ende 1988 im Kolpinghaus (damals am Schüttenwall) kamen immerhin rund 130 Menschen. Nach Einschätzung der Herausgeber wurde die Publikation nicht von allen Stadtpolitikern begrüßt; heute würde man wohl auf mehr Offenheit stoßen.
Themen - Perspektiven – Initiativen: vor 35 Jahren
In 36 Artikeln auf 110 Seiten gewinnt man einen Überblick über das bürgerschaftliche Engagement jenseits von etablierten Vereinen und Kirchen. Was waren die Themen, welche Perspektiven wurden eingenommen, und welche Initiativen stellten sich mit ihrer Arbeit vor?
Die Themen sind zum einen diejenigen, die uns auch heute noch beschäftigten (sollten): Menschenrechte, darunter Fragen der Gleichstellung, Frieden, „Dritte Welt“, Umwelt und Verkehr, nicht zuletzt auch Kultur- und Bildungspolitik. Eine wesentliche Rolle spielen zum anderen die oftmals kleinen Selbsthilfeorganisationen oder Initiativen, in denen sich Menschen zusammengeschlossen haben, weil sie ihre Interessen in den gegebenen Strukturen nicht ausreichend berücksichtigt finden.
Eine erste Gruppe von Texten der Schrift befasst sich mit lokalen Konfliktpunkten. Allein drei Beiträge widmen sich der Auseinandersetzung um die Bebauung und Nutzung der Muttergottesstiege. Eine Bürgerinitiative sammelte rund 2500 Unterschriften und organisierte eine Demonstration. Man fürchtete neben Leerständen vor allem hohe Mietkosten, da die Stadt in den Gebäuden 4000 Quadratmeter für die Verwaltung mit einer Vertragslaufzeit von 30 Jahren anmieten wollte. Die Bürgerinitiative schätzte, dass über die gesamte Laufzeit gesehen eine Gesamtsumme von 25 Mio. DM auf die Bürger:innen zukämen. Machen wir einen kurzen Sprung in die Gegenwart: Jüngst hatte der Stadtrat zu entscheiden, ob der Mietvertrag für die Verwaltungsgebäude in der Muttergottesstiege verlängert werden sollte, ob ein Neubau besser sei oder ob die Verwaltung in bestehende Gebäude der Stadt umzieht. In der Beschlussvorlage für den Stadtrat vom 12.5.2023 heißt es, „…dass dem Invest in das eigene Vermögen der Vorzug vor einer weiteren Miete mit ihren unwägbaren Folgen zu geben ist“ (Stadtrat Haltern am See 2023: 7). Hier drängt sich die Frage auf, ob das die Bürgerinitiative nicht ähnlich gesehen hatte, nur eben 35 Jahre früher. Ein weiteres lokales Problem war der „verkehrsberuhigte“ Ausbau von Mühlenstraße, Disselhof und Zum Mühlengraben. Anwohner und eine Bürgerinitiative wehrten sich. Die Kritik dass die Bürger:innen nicht genügend an der Planung beteiligt sind, findet sich auch in weiteren Beiträgen des Lesebuchs.
Eine zweite Gruppe von Artikeln in der ‚halternativen‘ Festschrift befasst sich mit überregionalen Themen. Umweltprobleme reichen naturgemäß und menschengemacht weit über die Seestadt hinaus. Der Unfall im Atomkraftwerk Tschernobyl lag erst drei Jahre zurück. „Energiewende – Atomkraftende“ wird in einem Beitrag gefordert; von den Stadtpolitikern erwartet man ein Energiekonzept der Stadt Haltern. Die Initiative kritisiert, dass alle ihre Vorschläge bisher abgelehnt worden seien. Zu den großen, weit über die Seestadt hinausreichenden Problemen gehören die Friedens- und „Dritte-Welt“-Politik und die Durchsetzung von Menschenrechten. So findet sich ein Beitrag über die Ostermarsch-Beteiligung Halterner Bürger:innen; die Brasilien-Aktionsgruppe stellt sich vor, ebenso die örtliche Gruppe von Amnesty International und Selbsthilfeorganisationen, die sich für die Rechte von Frauen (z.B. „Frauen für Frauen“) einsetzen.
Eine dritte, das Lesebuch stark prägende Gruppe von Beiträgen umfasst Berichte von recht kleinen Initiativen, die oftmals (zumindest Ende der 1980er-Jahre) nicht in Vereinen organisiert sind und auch keine überregionalen Organisationen oder Bewegungen im Rücken haben. Gleichwohl geht es um Probleme und Lösungen, die nicht nur in Haltern und zum Teil heute noch relevant sind. So beschreibt die „Behinderten-Sport-Gemeinschaft“, wie schwer es ist, wenn Eltern mit ihren behinderten Kindern, aber auch erwachsene Behinderte in öffentlichen Bädern schwimmen gehen wollen. Vermutlich sind auch in Zeiten von Paralympics nicht alle dieser vermeidbaren Hürden beseitigt. Auch aus dem Bereich der Kultur und Bildung stellen sich Initiativen vor, etwa das „Toleranz-Grenztheater“, die „Kulturinitiative Haltern und der „Verein für freie Bildungsarbeit Haltern e.V.“.
Und heute?
Was ist aus den Themen, Initiativen und den an „Halternativ“ beteiligten Menschen geworden? Die Initiativen sind nicht nur, aber insbesondere mit der Partei „Bündnis90/Die Grünen“ thematisch, zum Teil personell verbunden. Nachdem die Partei „Die Grünen“ 1979 mit 13 Stimmen den Einzug in den Stadtrat nur knapp verfehlte (4,91 %), erreichte sie 1984 bereits 10,5 %. Bei den letzten Wahlen (2020) stimmten in Haltern 21,5 % der Wähler:innen für die Grünen. Nahezu alle im Lesebuch angesprochenen Probleme sind heute ebenso relevant wie 1988: Kriege, Ausbeutung der „Dritten Welt“, die Erderwärmung und Ressourcen-Raubbau, die negativen Folgen von Autoverkehr und Flugreisen, schrumpfende Mittel für die Kultur- und Bildungspolitik, um nur einige Punkte zu nennen. Migration ist in „Halternativ“ allenfalls am Rande ein Thema, was bei einer möglichen Neuauflage des Lesebuchs gewiss anders wäre. Nicht alle Initiativen bestehen heute noch, auch wenn die Probleme, wegen derer sie gegründet wurden, noch von Bedeutung sind. Andere Gruppen sind zwischenzeitlich wieder aktiv geworden (Beispiel: Amnesty) oder neu entstanden (Forum für Demokratie, Respekt und Vielfalt). Bewegung heißt eben auch: Menschen ändern ihre Interessen und Lebensentwürfe, Organisationen sowie Widerstands- und Politikformen wandeln sich. Über die Relevanz der Themen hinaus ist personelle Kontinuität zu erkennen: Nicht wenige der vor 35 Jahren aktiven Menschen sind heute noch tätig engagiert. (Dem einen oder der anderen kann man im Forum für Demokratie, Respekt und Vielfalt begegnen, aber auch in anderen Initiativen oder Parteien.). Die Wünsche nach mehr Bürgerbeteiligung sind nicht geringer geworden und finden unter anderem in den Forderungen nach einem Bürgerrat auch in Haltern ihren Ausdruck.
Bleibt zu fragen: Wäre ein neues Lesebuch „Halternativ“ sinnvoll? Man müsste nicht bis zum 750. Geburtstag der Stadt warten.
Weitere Informationen: https://forumdrv.de/2023/07/17/halternativ
Autor:Werner Nienhüser aus Haltern | |
Webseite von Werner Nienhüser |
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