Römermuseum: Blindes Gefühl für Geschichte

Die Archäologin Marianne Gorissen (l.) erklärte den Sehbehinderten bei einer speziell für Blinde konzipierten Führung, was die römischen Legionäre an Gepäck zu schultern hatten. Foto: Ralf Pieper
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  • Die Archäologin Marianne Gorissen (l.) erklärte den Sehbehinderten bei einer speziell für Blinde konzipierten Führung, was die römischen Legionäre an Gepäck zu schultern hatten. Foto: Ralf Pieper
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Relikte sind oft die beste Möglichkeit, sich ein Bild von vergangenen Epochen zu machen. Was aber, wenn man nichts sehen kann? Im Römermuseum näherten sich Sehbehinderte nun der Geschichte auf ihre Weise - durch eine Führung, die die Antike im wahrsten Sinne begreifbar machte.

Boris Dudziak ist ein gebildeter und sehr interessierter Mann. In seinem Beruf bei der Stadt Haltern übernimmt er genauso Verantwortung, wie in seiner Arbeit als Vereinsvorsitzender, und er hat ein Faible für Geschichte. Zusammen mit Bekannten freute er sich daher auf einen Besuch im Halterner Römermuseum, wo viele hundert Exponate von der Zeit der Legionäre zeugen. Bunte Gefäße, prächtige Münzen und furchteinflößende Waffen liegen hier hinter Glas. Dudziak und seine Gruppe haben nur ein Problem - sie können sie nicht sehen. "Ich bin seit Geburt an blind", verrät der freundliche Halterner mit dem weißen Stock.

Erkennen, was man nicht sehen kann

Wie kann man jemandem etwas erklären, das er nicht sehen kann? Selbst für eine erfahrene Museumsführerin wie die Archäologin Marianne Gorissen war diese Frage nicht sofort zu beantworten. "Eine Führung für Sehbehinderte stellt uns vor eine ganz besondere Aufgabe", erzählt sie. Um ein passendes Konzept entwickeln zu können, griff die Fachfrau zusammen mit ihren Kollegen zum blickdichten Augentuch. Als die Welt dunkel wurde, kam mit der fehlenden Augensicht die plötzliche Einsicht, dass hier mehr fehlte, als vom Gehirn verarbeiteter optischer Reiz. "Wir haben dann überhaupt erst gemerkt, was man dann noch mitbekommt, und wie sich die Informationsaufnahme verändert", berichtet sie immer noch mit einer gewissen Ehrfurcht.

Die eigentlich einfache, für die Erklärenden aber entscheidende Erkenntnis: Wenn die Sicht fehlt, müssen Informationen ganz anders verarbeitet werden. "Man muss sich auf das wesentliche konzentrieren", erklärt Gorissen. Da historische Fakten hier nur über das gesprochene Wort vermittelt werden, und weder Karten noch Bilder helfen können, macht die Referentin kleinere Abschnitte und beschränkt sich auf Wissen, das auch jemand ohne Augenlicht erfassen kann. "Natürlich frage ich vorher, ob noch jemand Erinnerung an Farbe hat, denn nicht jeder Besucher ist von Geburt an blind", so die Fachfrau. Generell beschreibe sie aber eher die Form von Gegenständen, als deren Farbe.

Durch die Form zur Erkenntnis

Stichwort Form: Das haptische Erlebnis ist die wichtigste und beste Art, Sehbehinderten das Museum näherzubringen. Die ganze Führung ist daher darauf ausgelegt, die Besucher vor allem mit den Händen "sehen" zu lassen. Für Boris Dudziak und sieben andere Mitglieder des Blinden- und Sehbehindertenvereins wurde es daher eine fühlende Reise in die Vergangenheit: Forschend glitten ihre Finger über Metallhelme und Ledertaschen, sie spürten das Gewicht von Rüstung und Marschgepäck der Legionäre, und sie erkundeten ein Zelt aus schwerem Ziegenleder mit dem vollen Einsatz ihres Tastsinnes.

"Ich gebe die Schuhe nun einmal herum", sagt Marianne Gorissen so zum Beispiel, und drückt einem der Besucher die Legionärssandalen mit den schweren Sohlennägeln in die Hand. Während die Hände des Gastes das fremde Objekt erfühlen, achtet sie sorgsam darauf, den Strom an Informationen nicht abreißen zu lassen. "Die Anderen können ihrem Begleiter ja nicht dabei zusehen, was er gerade macht", beschreibt sie ihre Methode, "und damit sie sich nicht zu langweilen beginnen, erkläre ich kontinuierlich und bröckchenweise weiter." So lässt sie die Gäste ein wenig über die Frage nachdenken, ob sie gerne mit über 20 Kilogramm Ausrüstung am Körper die tägliche Marschroute von 15 bis 25 Kilometern absolvieren würden, während die Objekte durch immer andere neugierige Hände gehen.

Römische Originale für sensible Finger

Wer mit seinem Tastsinn die Welt erkundet, grabscht naturgemäß nicht ziellos oder gar unbedacht einfach zu. Daher gewährte das Römermuseum der kleinen Gruppe von Sehbehinderten den Zugang zu Gegenständen, die den normalen Besuchern verwehrt bleiben: Während Rüstung und Marschgepäck noch moderne Kopien waren, wanderten die Finger der Gäste nun auch über 2000 Jahre alte Keramik. "Das etwas glattere Material wurde von uns ergänzt", betont die Fachfrau, während die Besucher rauhes Originalgeschirr mit glatteren Flicken erfühlen. Selbst die riesigen Amphoren, deren unsachgemäße Berührung sonst Warnschilder und aufmerksame Museumswächter abwehren, glitten unter den Händen der interessierten Gruppe dahin. Zum Abschluß durften die Gäste dann sogar Mehl mahlen - auf Römerart, mit dem schweren Mühlstein.

"Es war eine sehr interessierte Führung", freute sich Boris Dudziak, der am Ende der Führung so zufrieden lächelte, wie alle Mitglieder seiner Gruppe. "Da wir alles ausprobieren durften, war es ein ganz anderes Erlebnis, als davon nur zu hören." Die Sehbehinderten waren begeistert - mehr als für manche anderen Besucher war die Antike hier für sie ganz im Wortsinne begreifbar geworden.

Die Archäologin Marianne Gorissen (l.) erklärte den Sehbehinderten bei einer speziell für Blinde konzipierten Führung, was die römischen Legionäre an Gepäck zu schultern hatten. Foto: Ralf Pieper
Das schwere Marschgepäck mit seinen vielen einzelnen Bestandteilen aus unterschiedlichen Materialien war für die nichtsehenden Besucher sehr interessant. Auch der Vorsitzende des Blindenvereins, Peter Dudziak (ganz rechts), freute sich über die spannende Führung.
Autor:

Oliver Borgwardt aus Dorsten

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