Polenlager in Haltern: „Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung“.
Von Irene Stock
Der Ratssaal im Alten Rathaus war am vergangenen Freitagabend bis auf den letzten Platz besetzt, der Anlass – die Präsentation des Buches „Das UNRRA-Lager für Displaced Persons in Haltern am See 1945 bis 1948“ von der Autorin Iris Helbing. Ihre Magisterarbeit hat der Verein für Altertumskunde und Heimatpflege Haltern mit Unterstützung u. a. der Stadtbücherei Recklinghausen und des NRW-Familienministeriums nun als Buch herausgegeben. Der Hausherr, Bürgermeister Bodo Klimpel, begrüßte 150 Zuhörer und verwies auf den in der historischen Aufarbeitung viel zitierten Satz „Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung“.
Viele Zuhörer wissen vom „Polenlager“ – die Polen waren mit Abstand die größte ethnische Gruppe im Lager – aus den Erzählungen von Eltern, Verwandten, Betroffenen, die im April 1945 ganze Straßenzüge räumen mussten. 400 Häuser mit 850 Wohnungen zwischen Weseler und Holtwicker Straße wurden frei gezogen, um Wohnraum für die ehemaligen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen zu schaffen. Im Juni 1946 lebten dort 5590 Menschen. Die Alliierten erklärten das „Neue Viertel“ zum Sperrbezirk, das die Halterner Bevölkerung nicht betreten durfte.
Zwei Kurzfilme, die Dr. Dieter Zagefka vom Verein für Altertumskunde und Heimatpflege Haltern aus dem Imperial War Museum in London organisiert hatte, gaben einen Überblick über die „Displaced Persons“. Für viele Halterner damals waren die „Di-Pis“ Synonym für eine Minderheit von Befreiten, und eine lästige dazu. Heimlicher Hass auf die Fremden, akute Angst vor Vergeltungsakten der ehemaligen Zwangsarbeiter, Futterneid gegenüber den mit alliiertem Armeeproviant und aus eigener Landwirtschaft verpflegten Lagerinsassen, aber auch die Fassungslosigkeit über den plötzlichen Rollentausch von Sieger und Besiegten verdrängten jeden Ansatz, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Auch deswegen hat der Verein für Altertumspflege und Heimatkunde das Thema aufgegriffen.
Vor allem für die polnischen DPs galt das Klischee „kriminell und arbeitsscheu“. Ihre Repatriierung war zunächst für Monate von den Sowjets blockiert worden, die auf der sofortigen Heimführung ihrer Staatsangehörigen bestanden und sich sperrten, vorher über polnische Rückkehrer auch nur zu sprechen, geschweige denn für sie Transportmittel zur Verfügung zu stellen. Ursache waren aber auch Schwangerschaften der Frauen. Das Kirchenbuch der Lagergemeinde, das heute im Archiv der Sixtus-Gemeinde liegt, blieb der Autorin aus „datenschutzrechtlichen Gründen“ verwehrt – wie es im Buch heißt. Stadtarchivar Gregor Husmann hatte bei einem Besuch des polnischen Vizekonsuls Tomasz Badowski 2010 in Haltern die Zahl von 716 Kindertaufen zwischen 1945 und 1948 genannt. Viele Kinder starben während der ersten zehn Lebensmonate. Grund war der schlechte Gesundheitszustand der Mütter.
Eine Diskussion schloss sich nicht an – allenfalls im kleinen Kreis vor der Tür des Ratssaales. Dabei gab es leise Kritik am Buch. Es enthalte subtile Formulierungen, die dem Leser ein falsches Bild vermittelten. So schreibe die Autorin, „dass die deutsche Bevölkerung von der irrigen Annahme ausging, dass die DPs in allen Punkten besser versorgt würden als sie.“ Doch die Lebensbedingungen der DPs hätten absoluten Vorrang vor denen der Deutschen gehabt, so ein Zuhörer und zitierte den Britischen Minister für Deutschland, John Hynd, der im Unterhaus am 20. Dezember 1945 erläutert hatte, „dass die DP hinsichtlich der Versorgung mit Essen absoluten Vorrang vor der deutschen Bevölkerung haben“. Weitere Forschung tut also Not. (ist)
Hintergrund: 18 Millionen Fremdarbeiten waren bis 1945 von den Nazis zur Zwangsarbeit verpflichtet. 1944 waren 41 Prozent der in der deutschen Landwirtschaft Beschäftigten ausländische Zwangsarbeiter, 37 Prozent der Steinkohle-Kumpel, 28 Prozent der Maschinenbauer. Jedes vierte Kriegsgerät war statistisch von einem ausländischen Arbeitssklaven produziert worden. Die 1943 gegründete Welthilfsorganisation UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) war für Wohlfahrtsprogramme wie medizinische Versorgung in den Lagern zuständig.
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