725 Jahre Stadt Haltern (6): Mit Volldampf in die Zukunft
In diesem Jahr feiert Haltern ein kleines Jubiläum: Vor 725 Jahren verlieh der Bischof von Münster, Everhard von Diest, der kleinen westfälischen Gemeinde die niederen Stadtrechte und die Erlaubnis, eine Mauer zu bauen. Im Sommer hat Haltern an diese Erhebung mit einer großen Feier erinnert. Wir tun dies weiterhin: Eine Sonderserie im Stadtspiegel wird einige der wichtigsten Stationen in der langen Geschichte der Stadt beleuchten. In dieser Episode geht es um die Geschichte der Eisenbahn in Haltern, die fast genau vor 145 Jahren begann.
Das dunkle Ungetüm kündigt sich schon von weitem an: Dicke schwarze Qualmwolken steigen in den Herbsthimmel an der Lippe, und von ferne ist das laute Pfeifen bereits deutlich zu hören. Die Eisenbahn kommt, und die halbe Stadt hat sich an diesem Oktobertag 1869 am Bahnsteig versammelt. Wer von den Herren etwas auf sich hält, präsentiert sich in Anzug mit Hut, und die Damen tragen ihre Kleider spazieren. Schließlich bietet sich die große Gelegenheit, zum ersten Mal in der Geschichte mit einer Eisenbahn nach Recklinghausen zu fahren.
Als sich die Treibstangen dampfschnaubend in Bewegung setzen und die blumengeschmückte Lok mit dem klangvollen Namen „Friedrich-König“ kohlschwarze Wolken aus dem Schornstein pustet, jubeln die Zuschauer. Der ganze Bahnsteig ist ein einziges schwarz-weißes Fahnenmehr, Hüte werden geschwenkt, Kinder winken lachend dem nun schneller werdenden Zug hinterher.
Eine neue Epoche beginnt an der Lippe
In diesem Trubel, unter der Musik der Spielleute und mit dem Pfeifen der Lok, beginnt für viele Halterner eine neue Epoche. Die Eisenbahn ist das modernste Landverkehrsmittel dieser Zeit, ein Sinnbild für Fortschritt und Zukunft. Ab diesem Moment, als die Gäste vor Spannung nervös aus dem Fenster schauen, weil die schwere Lokomotive zum ersten Mal auf die nagelneue, frisch genietete Lippebrücke fährt, ist Haltern in ihren Augen endlich keine Provinz mehr.
Denn während im Süden, dem nahen Ruhrgebiet, die Industrialisierung immer mehr Fahrt aufgenommen hatte, hatte sich in Haltern in den vergangenen zwanzig Jahren wenig getan. Viele der erwachsenen Halterner hatten ihre Kindheit in einfachen Fachwerkhäusern verbracht, an denen nachts die Nachtwächter mit ihren Laternen entlanggingen. Sie hatten in den schlichten drei Schulen der Stadt das Einmaleins gelernt, wobei sie immer auf der Hut vor dem Rohrstock des Lehrers gewesen waren, und träumten nun von einer besseren Zukunft. Denn die goldenen Kaufmannstage der Stadt waren lange vorbei, und wer nicht in der Landwirtschaft auf einen frühen Tod hinschuftete, musste sich mit einem einfachen Leben als Arbeiter oder Angestellter zufrieden geben.
Nun, in den 1860er Jahren, begann sich das Leben in Haltern zu verändern. Wie die meisten Städte im Kreis Coesfeld, war die Lippegemeinde von weiten landwirtschaftlichen Flächen und Heide umgeben. Auf dem platten Land lebten die Menschen zwar immer noch mit großen Familien unter einem oft noch mit Stroh gedecktem Dach, aber in Haltern selbst wurde der Wandel sichtbar. Immer mehr Ziegelbauten begannen die alten Fachwerkhäuser zu verdrängen, und auf einer breite Chaussee rollten die Kutschen von Wesel über Haltern nach Münster. Doch noch immer lebten die meisten Menschen von der Landwirtschaft auf den eher kargen Böden, und die Kutschenwege wirkten im Vergleich zu den neuen Eisenbahntrassen in den südlichen Nachbarstädten geradezu mittelalterlich.
Anschluss an die Moderne
So sind die Rauchwolken, die an diesem Oktobertag in den Himmel stiegen, Zeichen des Fortschritts. Überall im Süden, an Emscher und Ruhr, begannen nun die Schlote zu qualmen, und Kohle wurde in immer größeren Mengen aus der Erde geholt. In dieser Zeit legten sich die Bahnstrecken wie Lebensadern über das Land und begannen, die deutschen Städte in einem immer dichterem Verkehrsnetz zu verknüpfen. Zwei dieser Lebenslinien sollten sich nun ausgerechnet in Haltern kreuzen: Von den Minen der künftigen Ruhrmetropole Essen sollten die Züge über Recklinghausen und Haltern bis nach Münster rollen, und eine weitere Strecke bog hier, von Venlo kommend, bis zu den Hafendocks Hamburgs ab. Zwei wichtige Gleisachsen, und die Lippestadt als Knotenpunkt - der Stadt standen aufregende Jahre bevor.
Streik und Streit um Lohn und Landbesitz
Doch zunächst galt es einige Schwierigkeiten zu meistern. Nicht jeder Bauer war bereit, sein Land einfach ohne weiteres, und vor allem nicht für das wenige angebotene Geld an die Eisenbahngesellschaften zu verkaufen. Auch vor Drohung mit Zwangsenteignungen schreckten die Behörden nicht zurück, und so entstand Unruhe unter den Halternern.
Doch nicht nur die Einheimischen waren nicht gerade glücklich mit dem Verhalten der Bauherren, sondern auch die zahlreichen ostfriesischen Gastarbeiter, die auf der Suche nach Arbeit nach Haltern gekommen waren. Eigentlich sollten die Männer den Ausbau des Gleiskörpers zügig vorantreiben, aber da auch der genügsamste Friese ohne pünktliche Lohnzahlungen bald keine Lust mehr auf die schwere Arbeit verspürte, war es kein Wunder, dass es erst zu Unzufriedenheit, dann zu Streiks und schließlich zu einer kompletten Niederlegung der Gleisarbeiten kam. Am 15. Mai verließen „die Getäuschten“, wie sie die Lokalpresse mitleidig bezeichnete, wutentbrannt die Lippestadt und ließen die Halterner mit ihren Bauarbeiten alleine.
Doch auch wenn sich die Fertigstellung verzögerte, schloss sich in Haltern schließlich doch das Verkehrsnetz zwischen der Hansestadt Hamburg und dem Kohlenpott. Nun waren die Halterner an die Lebensadern des Reiches angeschlossen, und das war ein Grund zu feiern.
Fortschritt entlang der Gleise
Während die Gleise schon lagen, auf denen die Halterner im Oktober 1869 nach Recklinghausen rollten, musste das Bahnhofsgebäude noch fertiggestellt werden. Die Arbeiten gingen flott voran, und schon zum Neujahrestag 1870 klirrten zur Einweihung feierlich die Sektgläser. Es sollte nicht der letzte Ausbau des Bahnhofes bleiben: Das Verkehrsaufkommen wuchs in den 1870er Jahren rasant an, und während Hamburger, Münsteraner, Weseler oder Essener durch Haltern ratterten, entstanden immer größere Anlagen rund um den Bahnhof. Fabriken und Forstbetriebe profitierten von dem neuen Verkehrsnetz und siedelten neue Gebäude an den Gleisen an.
Wohnen in der „Negersiedlung“
Eine Drehscheibe und ein großer Ringlokschuppen verwalteten die immer zahlreicheren Züge, der Bahnhof musste erweitert und mit einem neuen Empfangsgebäude für die immer zahlreicheren Reisenden ausgestattet werden, und bald schon wurden neue Häuser für die Eisenbahner gebaut. Die kohleschwarzen Gesichter der von der Arbeit heimkehrenden Männer ließen die Halterner schmunzeln und verliehen den Wohngebieten am Bahnbetriebswerk bald den Spitznamen „Negersiedlung“.
Für die Menschen an der Lippe, wo nun Wirtschaft und Industrie mit der Bahnlinie Einzug hielten, war die Eisenbahn ein Motor des Fortschritts gewesen, Und für die Menschen, die aus den Zugfenstern beim Halt im südlichen Münsterland schauten, wurde Haltern nun ein fester Begriff. Erst gegen Mitte des 20. Jahrhunderts würde das Automobil die Bahn als wichtigstes Transportmittel in Haltern ablösen, und elektrische Motoren verdrängten die Dampfmaschinen. Bis dahin aber zeigten die dicken Rauchwolken und das Tuten der Lokomotiven, dass die Lippestadt seinen Anschluss an die moderne Welt gefunden hatte.
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725 Jahre Haltern
Die große Sonderserie im Stadtspiegel
Episode 1: Der zerschlagene Traum vom kleinen Rom
Episode 2: Ein Dokument der Freiheit
Episode 3: Von Haltern an den Rand der Welt
Episode 4: Ein stiller Wächter
Episode 5: Die bleichen Finger des Krieges
Episode 6: Mit Volldampf in die Zukunft
Episode 7: Eine Zeit der Schande
Autor:Oliver Borgwardt aus Dorsten |
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