725 Jahre Stadt Haltern (1): Der zerschlagene Traum vom kleinen Rom

725 Jahre Haltern, 25 Jahre Stadtspiegel Haltern: Unter diesem Logo finden Sie unsere Sonderseiten in den aktuellen Ausgaben des Stadtspiegels. Grafik: Borgwardt
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In diesem Jahr feiert Haltern ein kleines Jubiläum: Vor 725 Jahren verlieh der Bischof von Münster, Everhard von Diest, der kleinen westfälischen Gemeinde die niederen Stadtrechte und die Erlaubnis, eine Mauer zu bauen. Im Sommer wird Haltern an diese Erhebung mit einer großen Feier erinnern.

Wir tun dies schon jetzt: Eine Sonderserie im Stadtspiegel wird einige der wichtigsten Stationen in der langen Geschichte der Stadt beleuchten. Um Haltern gerecht zu werden, müssen wir aber lange vor 1289 beginnen. Fast 13 Jahrhunderte früher, um genau zu sein.

Heute fließt die Lippe ruhig an grünen Feldern entlang, zieht unter Autostraßen hindurch und trägt höchstens einige abenteuerlustige Kanuten auf ihren Wellen dahin. In ihrem Wasser spiegeln sich Bäume, Brücken, Kirchtürme und Industrieanlagen. Für Aufregung sorgen nur die einen oder anderen Wasserwirbel, die einen unvorsichtigen Freizeitpaddler abrupt ins kühle Nass befördern können. Für die Anwohner bringt Halterns Hausfluss schöne Aussichten, Freizeit, Erholung und ab und zu Hochwasser, das von grünen Dämmen sicher gehalten wird.

Vor 2000 Jahren aber brachte die Lippe den Krieg.

Ein Lager an einer Lebensader Roms

Rhythmisch schlagen die Ruder in den breiten Fluss. Schweiß glänzt auf den Gesichtern der Männer an den Riemen. Vom Rhein her ist es fordernde Arbeit, das Schiff entgegen des Stroms in diese Gegend zu rudern. Es ist wildes Land, Barbarenland. Wie Inseln sind römische Lager in dieses Land gestreut, verbunden durch den Fluss. Lupia nennen ihn die Männer. Sie sprechen Latein, sind Berufssoldaten, und viele von ihnen haben ihre Heimat im Süden, jenseits der Alpen. Es sind Legionäre, und ihr oberster Herr ist der Kaiser von Rom, Augustus.

Hinter einer Biegung kommen langgestreckte Dächer in Sicht, die quer zum Fluss am Nordufer stehen. Einige breite, kleinere Schiffe liegen in der Nähe an. Die Männer atmen auf. Das müssen die Bootshäuser sein, und das Ziel ist nahe. Jetzt erkennt man Männer in den Wachtürmen, die die breite Mauer rund um die Hafenanlage kränzen. Die Sonne spiegelt sich in ihren Schienenpanzern und den Helmen. Auch wenn die Schiffe italienischen Wein und mediterrane Waren ans Ufer bringen, ist dies doch unruhiges Land, und die Wachen stehen jeden Tag auf den Türmen. Weiter westlich, wo der Rhein wie ein breites Band römisches Reich und Germanien trennt, blühen die Grenzstädte. Handel hat die Außenposten der Zivilisation hinter hohen Mauern reich gemacht. Diesen Wohlstand gilt es zu sichern. Auch hier, an der Lippe. Die Legionäre nehmen die Ruder hoch und lassen ihr Schiff an die Anlegestelle gleiten. Noch ein paar Minuten marschieren, dann sind sie am Ziel: Aliso.

Erinnerungen an die Zeit vor Haltern

2000 Jahre später kann man sich Haltern ohne das Römermuseum nicht mehr vorstellen. Die Einrichtung ist eine der wichtigsten touristischen Magnete der Stadt, und eines ihrer Aushängeschilder. Die eigentliche Geschichte des Museums beginnt aber rund 100 Jahre früher: Die ersten Ausgrabungen wurden 1899 vorgenommen, und die rasch in großer Zahl vorliegenden Funde fanden bald in einem neuen Museum am Kärntner Platz ein neues Zuhause. Die Bombenangriffe während des Zweiten Weltkrieges zerstörten das Gebäude allerdings, und so stand Haltern eine ganze Zeit ohne Römermuseum da.
Vor 25 Jahren begann die Planung des heutigen Museums, das schließlich 1993 eröffnet wurde. Seitdem zieht es Tausende Besucher pro Jahr an. Sie sind neugierig, wie es einst hier aussah, zur Zeit des Augustus.

Nachschub für Roms Legionen

Mit einem Poltern werden Laufstege an den Schiffsrumpf angelegt. Noch ein wenig schwankend gehen die Legionäre an Land. In Zweierreihen stellen sie sich auf, wie sie es gewohnt sind. Der Blick wandert umher: In den Schiffshäusern werden eifrig schlanke, lange Rümpfe ausgebessert. Kriegsschiffe, und das hier in der Provinz. Die Menge an Waren, die von den Prähmen geladen wird, lässt aber auf ein größeres Lager schließen. Immer wieder legen leere Kähne ab, und vollbeladene nehmen ihren Platz ein. Wer braucht so viel Nachschub? Als die Legionäre aus der Marinebasis herausmarschieren und nach Nordwesten schauen, verstehen sie. Das Lager Aliso ist riesig.

Eine Schaltstelle römischer Macht

Als „eine gewaltige Miltärbasis“ beschreibt der Archäologe und Leiter des Römermuseums, Dr. Rudolf Aßkamp, die römische Anlage in einem Begleitbuch zur Varusausstellung von 2009. Die „für die damalige Zeit größte Konzentration militärischer Anlagen an einem Ort“ habe sich in Haltern befunden, eine Macht, die auf germanischem Boden ohne Beispiel sei: „Kein römischer Fundort in Nordwestdeutschland zeigt eine derartig massive militärische Nutzung“. Neben der Marinebasis und dem Hauptlager kamen noch ein Feldlager für rund zehntausend Soldaten auf dem Silverberg, eine Militäranlage auf dem Annaberg, Versorgungseinrichtungen und Friedhofsanlagen für gestorbene und gefallene Römer hinzu. Kurz gesagt: Um die Zeitenwende herum war das Gebiet des heutigen Haltern eine Schaltstelle römischer Macht.

Kultur im Schlepptau der Expansion

Die Römer kommen als Invasoren, aber sie sind auch Kulturbringer. Im Fahrwasser der Expansion folgen medizinisches, handwerkliches und technisches Wissen, Lebensart und Kultur. Waren aus dem fernen Mittelmeerraum gelangen mit den Legionen bis in das germanische Grenzland. Man speist von feiner Keramik und zahlt mit einheitlichen Münzen, verarbeitet edle und unedle Metalle zu wertvollem Werkzeug und tödlichen Waffen, und heilt Krankheiten mit chirurgischer Präzision und medizinischer Wissenschaft. Wahrscheinlich soll Aliso nicht nur ein militärischer Angelpunkt sein, im Gegenteil: In den späten Bauphasen mehren sich die Zeichen für eine zunehmend zivile Nutzung.
Hätte Haltern ein zweites Xanten oder gar Köln werden können? Man stelle sich vor: Römische Straßen, römische Thermen, römische Tempel oder römische Theater, und das alles in der germanischen Wildnis. Vielleicht würde der Halterner von heute im Sommer Eis schleckend über das Forum schlendern oder im Amphitheater plattdeutsche Theaterstücke bewundern?

Das Ende des Varus ist das Ende Alisos

Doch dazu kam es bekanntlich nicht. Im Jahre 9 nach Christus fallen drei römische Legionen der Guerillataktik der germanischen Stämme unter Arminius zum Opfer. Der römische Anführer, Varus, nimmt sich aufgrund der Niederlage das Leben. Die Reste der geschlagenen Armeen sammeln sich noch einmal in Aliso, um dann den Rückzug nach Westen anzutreten. Die römische Kultur verschwindet nach der Niederlage über den Rhein, und sei es zum Guten oder Schlechten, der Weg ist nun frei für einen anderen Lauf der Geschichte. Haltern sollte nie ein kleines Rom, Köln oder Xanten werden, aber die römische Vergangenheit bleibt unvergessen.

Heute können Besucher selbst mit einem römischen Kriegsschiff fahren, Geschichtsdarsteller in römischer Tracht bewundern oder 2000 Jahre alte Originalfunde bestaunen. Das Rad der Zeit drehte sich aber erst einmal weiter - ohne Rom.

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725 Jahre Haltern
Die große Sonderserie im Stadtspiegel

Episode 1: Der zerschlagene Traum vom kleinen Rom
Episode 2: Ein Dokument der Freiheit
Episode 3: Von Haltern an den Rand der Welt
Episode 4: Ein stiller Wächter
Episode 5: Die bleichen Finger des Krieges
Episode 6: Mit Volldampf in die Zukunft
Episode 7: Eine Zeit der Schande

Autor:

Oliver Borgwardt aus Dorsten

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