AK 2011 | Tor 11: Aus dem Tagebuch eines Tannenbaums

21. Dezember: Wurde immer noch nicht adoptiert. So langsam muss sich mal jemand erbarmen. Noch drei Tage bis Heiligabend und ich habe noch nicht mal eine Christbaumkugel gesehen. Musste mir wieder Sprüche von den größeren und breiteren Bäumen anhören. Die nadeln doch alle, haben keine Ahnung! Kommt schließlich nicht auf die Größe an.
22. Dezember: Bekomme Komplexe. Sind meine Nadeln nicht grün genug? Oder hat der Verkäufer eine lausige Taktik? Ich würde mich freuen, wenn mich einer mitnimmt, aber andererseits habe ich Angst vor dieser Netzmaschine. Das muss doch wehtun. Ausserdem bin ich kein Fussball. Zwei Leute hatten sich für mich interessiert, aber sie sagten, dass sie es sich noch überlegen wollen, ob sie nicht wieder den Plastikbaum vorziehen. Ich hasse den Fortschritt.
23. Dezember: Das letzte Stündlein hat geschlagen. Ich habe aufgegeben. Fast alle anderen sind schon weg Ich werde abgeholt und dann zu Kleinholz verarbeitet. Nie werde ich Christbaumkugeln sehen. Nie mit Lametta schmücken. Niemals eine Krone aufbekommen. Ich verzweifle und beginne zu nadeln. Habe gestern geträumt, ich ende als Skateboard.
24. Dezember: Der kleine Mann ohne Haare hat sich für mich interessiert. Er meinte, er hätte eh nicht soviel Platz und wäre auch zu faul zum Schmücken. Ich habe es geschafft. Eigentlich habe ich mir meinen Adoptivpapa anders vorgestellt, aber man kann ja nicht alles haben. Habe mir den Kopf beim „Einnetzen“ gestoßen und fühle mich dank der Bondage nun sehr unwohl. Der Umstand, dass ich in seinem Kleinwagen die ganze Strecke über zur Hälfte nur knapp über der Straße hing, weil ich sogar noch zu groß für den Kofferraum war, macht das alles nicht leichter.
Bei ihm angekommen, bringt er mich direkt in ein typisches Wohnzimmer. Zumindest habe ich sie mir immer so vorgestellt. Bis auf die „ästethischen“ Schwarz-Weiß Aufnahmen halbnackter Männer. Was es wohl damit auf sich haben mag? Er schneidet mein Netzkleid mit einem angerosteten Brotmesser auf. Endlich kann ich wieder atmen. Wäre die Luft hier nicht so eklig, könnte ich mich darüber freuen. Er holt einen Christbaumständer, der interessanterweise dasselbe grün trägt wie meine letzten Nadeln. Ob das Sympathie ist? Er benutzt das Brotmesser von eben, um mich quasi zu beschneiden. Es tut höllisch weh. Stellen sie sich vor, jemand hackt ihnen ihren halben (!) Fuss ab und erwartet, dass sie gerade laufen. Dabei müsste er nur mal die Schrauben vom Ständer etwas lösen, denn wie gesagt – so groß bin ich ja gar nicht.
Er zwängt mich in diesen Ständer mit meinen verunstalteten Stumpf. Irgendwie frage ich mich, warum ich so scharf darauf war, adoptiert zu werden. Totale Scheiße bisher. Und ausserdem steh ich mit dem Gesicht zu einem dieser Männerposter. Werde nun auch noch geschmückt. Ich freute mich ja auf meine erste Kugel, aber nun hängt sie an mir runter wie ein tonnenschweres Gewicht und sieht dazu auch noch dämlich aus. Dazu lauter Glitzerlametta und die Krönung ist das Schneespray, woran der kleine Wicht wohl besonders Spass hat. Die eigentliche Krönung, also der Moment, wo er mir die Krone aufsetzt, hat mich beinahe erlöst. Denn er steht ein wenig zu wackelig auf seinem Hocker, doch kann sich rechtzeitig fangen. Zu schade. Er fängt an, mir wäscheklammerartig Glühbirnen umzuwickeln. Sie zwicken einerseits und das Kabel stranguliert mich. Willkommen im SM-Dungeon. Ich werde nach dem Dilemma schildern, wie ich wieder auf dieser problematischen Situation rausgekommen bin. Ich bin eh am Ende.
Versetzen sie sich nochmal in meine Lage: Sie stehen mit zerstückelten Füssen mitten auf einem Tisch, an ihren hängen bunte Gewichte, sie tragen eine glitzernde Toga, sie haben eine Art (meinetwegen Burger-King) Krone auf, müssen permanent auf nackte Männerarsche schauen, sind von oben bis unten mit Chemie eingesprüht, haben heiße Glühbirnen an Stellen, wo noch nicht mal die Sonne scheint und werden von lauter Menschen angesungen. Mit Weihnachtsliedern. Das ist die Hölle. Und irgendwie habe ich das schlechte Gefühl, dass man mich bald wieder loswerden will.

Autor:

Oliver Peters aus Dinslaken

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