Sperrmüll zum Ablachen: Die Rache des Maulwurfs

Einmal in der Woche macht Tobias Radewitz die Nacht zum Tag. Da zieht er nachts aus und streift wachsam durch die schlafende Innenstadt. Unerkannt bleibt er dabei selten; das Stottern seines altersschwachen Mopeds plus Anhänger und das grelle Licht seiner Taschenlampe reißen die Mitbürger aus dem Schlaf: „Oh nein ... Da kommt wieder dieser Sperrmüll-Assi!“
Wobei Sperrmüll-Assi noch eine der harmloseren Bezeichnungen für Tobias ist. Neben Der-Arsch-mit-dem-Moped sind noch Taschenlampen-Wichser und Müll-Idiot recht populär. Ich hingegen bleibe über der Gürtellinie und nenne ihn schlicht den Maulwurf, weil er sich wie kein Zweiter durch ungewollte Haushaltsgeräte wühlt.

Es ist Mittwoch in der Früh, ca. 02.30 Uhr. Maulwurfzeit. Auch dieses Mal werde ich das Gewühle mitbekommen, denn ich finde nicht die Ruhe zum Schlafen. Warum? Die Digitalanzeige meines Radioweckers wird auf die gegenüberliegende Wand des Schlafzimmers projiziert. Durch einen kleinen Scheinwerfer am Wecker kann man von der gesamten Wohnung aus die Uhrzeit von der Wand ablesen. Danke, Mama. Danke, dass Du auch wirklich jeden unnützen Schrott kaufst, und dabei nicht vergisst, ihn mir zu schenken. Ich lausche ab und zu, ob ich Tobias schon anknattern höre. Manchmal bilde ich mir ein, bereits am Geräusch des Mopeds seine Stimmung raushören zu können. Put Put Put – das wäre ein Beispiel für eine magere Ausbeute. Nur ein alte Kaffeemaschine, ein Hullahoop-Reifen und diverse Blumenkübel in hässlichbunt. Ein Tak Tak Tak steht für einen mittelmäßigen Erfolg. Ein staubiger Amiga 500 samt unzähliger Disketten, ein Billy-Regal in einer erträglichen Farbe und ein nicht entkrümelter Markentoaster. Erfolg auf der ganzen Linie hingegen verspricht ein Knat Knat Knat. Eine noch intakte Couch, die aufgrund des Farbtons eigentlich Puffcouch heissen müßte; ein ausgedientes Damenrad ohne Bremse, ohne Licht, ohne Sattel, ohne alles eigentlich, aber durchaus noch fahrtauglich oder eine umfangreiche, wenn auch vergilbte Sammlung alter Hausfrauenmagazine wie Bella mit Themen wie „Neu! Abnehmen durch weniger Essen!“

Moment!
Da!
Ganz leise.
Ich kann ihn hören.
Ist es ein Tak Tak Tak? Nein, gar ein Knat Knat Knat?
Hmm.

Put Put Put. Oh je. Kein gutes Zeichen. Tobias, der Maulwurf, muss sich dem Lautstärkepegel nach direkt unter meinem Fenster befinden. Ich verlasse das Bett, um mir das Trauerspiel anzusehen. Natürlich kann ich dabei nicht die gigantische 02.35 Uhr an meiner Schlafzimmerwand übersehen. Tatsächlich hat der Maulwurf heute nur wenig in seinen Anhänger aufgeladen. Soweit ich erkennen kann, sind ein unsagbar grotesker Nachttisch sowie ein Sitzkissen in Bananenform seine Ausbeute. Ob das Sitzkissen früher mal die Form einer Zitrone hatte? Tobias nimmt derweil den Sperrmüllhaufen meines Wohnblocks unter die Lupe. Routiniert schwingt er seine Taschenlampe über den Krempel, hebt hier und da mal Zeugs hoch und lässt es meist Sekunden später wieder achtlos fallen. Mich würde interessieren, ob er eigentlich weiß, wonach er genau sucht. Vielleicht hat er eine Art Einkaufsliste. Eine Sperrmüllliste. Einen Wunschzettel. „Heute will ich gerne einen Lockenstab finden, bitte bitte.“
Mir fällt ein, dass ich selbst etwas zum Sperrmüll rausgestellt habe. Genauer gesagt, dazugestellt. Denn ich bin zu faul, diese Müllabholkarten auszufüllen. Außerdem wusste ich nicht, worunter ich meine alte Discokugel, die bis vor Kurzem mein Badezimmer zierte, eintragen sollte. Ich liebte diese Kugel. Sie gab mir das Gefühl, selbst bei den menschlichsten Dingen ein Star zu sein. Zumindest bis vorgestern, denn bei meiner morgentlichen Abreibung nach der Dusche holte ich die Kugel mit einer schwungvollen Handtuchbewegung von der Decke. Nun hält Tobias sie vor sein Gesicht und leuchtet sie mit seiner Lampe an. Der Maulwurf ist auf einen Diamanten gestoßen. Er staunt nicht schlecht und dreht die Kugel leicht, so daß lauter kleine Lichtfetzen über sein Gesicht, über sein Moped und über den restlichen Sperrmüll wandern. Ich warte ja nur darauf, dass einer der anderen Nachbarn laut entnervt aufstöhnt: Nun hat der Sperrmüll-Assi auch noch einen Scheinwerfer, aber es bleibt still. Die Kugel ist wohl doch nicht so beschädigt, wie ich zuerst annahm. Eine Seite war etwas eingedrückt und einige Spiegelflächen waren zerbrochen. Den Maulwurf scheint das aber nicht zu stören. Er legt die Discokugel behutsam in den Anhänger. Lebwohl, geliebte Discokugel, es war eine schöne Zeit.
Ich drehe mich um. 02.45 Uhr, in gewaltigen hellen roten Ziffern. Wer braucht so einen Scheiß? Ist der Weckton eines Weckers nicht schon Horror genug? Warum muss ich die Uhrzeit selbst von einem Flugzeug aus lesen können? Das geht so nicht weiter. Ich klemme den quälenden Wecker ab, stopfe ihn in eine Stofftasche, sage im Geiste Sorry Mama, ziehe mich an und laufe auf die Straße. Der Maulwurf ist schon weitergezogen, aber anhand seines Mopeds ist es ein Leichtes, ihn ausfindig zu machen. Zumal seine Taschenlampe mich oft an das berühmte Batman-Signal erinnert. Mole-Man, Retter der ungeliebten Küchengeräte. Ich folge dem Lichtkegel und finde Tobias zwei Straßen weiter, wie er einen Lockenstab hochhält. Das ist definitiv keine Put Put Put – Nacht für Mole-Man. Mit dem sinnlosen Piloten-Radiowecker in der Tasche stapfe ich auf ihn zu.

„Hallo Tobias. Ich habe hier was für Dich.“
Er reagiert nicht. Womöglich hört er mich nicht, weil er mit dem Kopf in einem Farbeimer versunken ist.
„Hallo! Tobias? Ich habe ein Radio für Dich!“
Der Maulwurf scheint geradezu in diesem Farbeimer zu verschwinden. Ich tippe ihm auf die Schulter.
„Tobias! Radio! Voll toll! Für Dich!“
Er dreht sich zaghaft um. Schaut mich von oben bis unten an und bleibt mit dem Blick an der Tasche hängen.
„Woher kennst du meinen Namen?“, fragt er mit ruhiger Stimme.
„Hallo? Du bist bekannt wie ein bunter Hund. Sogar meine Oma kennt Dich.“
„Dann grüß sie mal schön.“
„Ja, ok. Mach ich doch gerne.“
„Schön. Bist du fertig?“
„Nein. Ich habe hier was für Dich.“
„Wieso sollte ich etwas von Dir annehmen?“
„Ich kann es ja gerne da auf den Haufen legen, wenn Du so ein Gewohnheitstier bist.“
„Laber nicht, zeig‘ schon her.“
Ich halte ihm meinen Radiowecker hin. Er zieht eine seltsame Grimasse, als er das Gerät mustert. Dabei fällt mir auf, dass er aussieht wie Louis de Funes, nur mit mehr Haupthaar. „Ist das einer dieser blöden Projektionswecker?“ „Ja“, antworte ich. Tobias legt seine Stirn in unzählige Falten. „Ok, nehme ich. Danke!“ „Gerne doch! Stets zu Diensten! Vielleicht findest du ja noch das passende Flugzeug oder Hubschrauber dazu!“ Tobias winkt verächtlich ab und ich überlasse ihn weiter seinen Fundstücken.

Zurück in meiner Wohnung angekommen, lege ich mich direkt wieder ins Bett, um wenigstens ein paar Stunden Schlaf zu erwischen. Zumal ich nun diesen elenden Wecker los bin. Ich werde wohl herrlich ausgeschlafen aufwachen, mich recken und strecken, einmal kräftigst gähnen und ... nein. Ein letzter Blick vom Bett aus zum Fenster lässt mich erstarren. 03:15 Uhr auf der Hauswand des Wohnblocks gegenüber. Zum ersten Mal gehe ich mit meinen Beschimpfungen unter die Gürtellinie und finde erst Schlaf, als das Knat Knat Knat langsam verstummt und die Sonne aufgeht.

Autor:

Oliver Peters aus Dinslaken

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