Ein Brückenbauer und Kämpfer
KDA-Pfarrer Jürgen Widera geht nach 32 Jahren in den Ruhestand

Jürgen Widera hat viel gesehen und erlebt. Beispielsweise hat er soch als Ombuudsmann um die Hinterbliebenen der Opfer der Loveparade-Katastrophe gekümmert. | Foto: Kirchenkreis Duisburg
  • Jürgen Widera hat viel gesehen und erlebt. Beispielsweise hat er soch als Ombuudsmann um die Hinterbliebenen der Opfer der Loveparade-Katastrophe gekümmert.
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1988, die Krupp-Krise tobte. In der Kruppschen Menage diskutierten 800 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre nächsten Schritte gegen die Betriebsschließungen. In diesem Kreis ein damals noch ganz unbekannter junger Pfarrer. Unversehens war Jürgen Widera aus seinem kirchlichen Probedienst in die heiße Phase des Protestes geschlittert.
„Es war letztlich ein erfolgreicher Arbeitskampf, durch den ich viel für die folgenden Auseinandersetzungen und Proteste gelernt habe. Und Kontakte wurden geknüpft zu den Gewerkschaften, die Streikenden gewannen Vertrauen“, erinnert sich der Pfarrer des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt (KDA) Niederrhein. Das Vertrauen brachte Gewerkschaften und Kirchen immer wieder zusammen, zum Beispiel 1992 – in einer Zeit furchtbarer Übergriffe auf Asylanten in Rostock, Hoyerswerda, Hünxe und anderswo – als IG Metall und die Evangelische Kirche Tausende zum zweitägigen Festival „Freundschaft ohne Grenzen“ im Landschaftspark Nord gegen Ausländerfeindlichkeit zusammenbrachten.
Vertrauen war es, das 1995 Bergarbeiterfrauen über sechs Wochen die evangelische Christuskirche in Kamp-Lintfort besetzen ließen, um gegen die Kohlepläne der Bundesregierung zu demonstrieren. Als BenQ-Siemens das Werk am Niederrhein schließen wollte oder Desowag in Rheinberg, stand der KDA den Streikenden zur Seite, um ihnen den Mut zu geben zu kämpfen, zumindest für einen guten Sozialplan, und die Selbstachtung zu wahren.
„Es liegt nicht in der Macht der Kirche, in den Konflikten der Arbeitswelt wirklich Lösungen herbeizuführen. Unser Beitrag besteht darin, den Menschen Mut zu machen, ihnen Kraft zu geben. In Gesprächen, mit Gottesdiensten, durch öffentliche Einmischungen und deutliche Stellungnahmen.“
So wie beim großen Konflikt mit der Citibank: Mitarbeitende des Callcenters hatten für einen Haustarifvertrag gestreikt und waren entlassen worden. Der KDA forderte öffentlich: „Eröffnen Sie kein Konto bei der Citibank!“. Eine Millionenklage drohte drei Instanzen lang, aber der KDA pochte weiter auf die Solidarität, zuletzt mit richterlicher Bestätigung. Es sei Aufgabe der Kirche, für die Rechte der Schwachen aufzustehen. „Dieser Konflikt, bei dem mein Kollege Hans Peter Lauer unser Sprecher war, sollte uns einschüchtern. Aber wir hätten niemals aufgegeben“, blickt der heute 65-Jährige zurück. „Das waren wir den Mitarbeitenden schuldig und unserer Glaubwürdigkeit. Wir stehen aufseiten der Schwächeren, wie es sich für Christen gehört.“

Toleranz und Respekt

Und das über Religionszugehörigkeiten hinweg. Den Weihnachtsgottesdienst im Jahr 2005 auf dem Düsseldorfer Flughafen im fast aussichtslosen Kampf der Arbeiter für einen Tarifvertrag bei „Gate Gourmet“ feierten rund 200 Streikende mit ihren Familien und sich solidarisierende Gäste aus vielen Religionen gemeinsam: mit Kerzen in den rot gefrorenen Händen im Nieselregen unter den startenden und landenden Maschinen. „Der Arbeitskampf war nicht zu gewinnnen. Aber es ging um die Würde. Aufgeben war für die Streikenden keine Option.“
Dass Jürgen Widera 32 Jahre lang im Dienst der fünf evangelischen Kirchenkreise Dinslaken, Duisburg, Kleve, Moers und Wesel Pfarrer für Industrie und soziale Arbeit war, wie sein Titel anfangs hieß, scheint im Nachhinein naheliegend.
Geboren wurde er 1954 in Kerpen, der Kolpingstadt. „Der Sozialreformer Adolph Kolping war sozusagen mein katholisches Pendant im 19. Jahrhundert“, scherzt Widera.
Er studierte Theologie in Wuppertal, Bonn und Köln Dann passierte etwas Unvorhergesehenes. Er hatte sich gute Chancen ausgerechnet, für ein Jahr nach Genf an das ökumenische Institut zu wechseln. Aber die Bewerbungsunterlagen gingen im Landeskirchenamt verloren. „Heute weiß ich, dass der Herr seine Hände im Spiel hatte – sonst wäre ich ja nicht zur rechten Zeit in Rheinhausen gelandet.“

Gemeinsam mit Bergleuten und Stahlarbeitern

Er bewarb sich in Rheinhausen als Industriepfarrer, wurde gewählt, musste jedoch noch ein paar Monate seinen Probedienst in Rheydt ableisten. Von dort aus sah er – der Sohn aus einer Arbeiterfamilie –, wie die Kruppkrise zum Arbeitskampf anschwoll und fragte sich, ob er – der junge evangelische Pfarrer – diesem Dienst gewachsen sein würde. Später erhielt er für seine Verdienste die Hans-Böckler-Medaille der Gewerkschaften. Der WDR drehte gar einen ganzen Film über ihn.
„Wir waren 32 Jahre erfolgreich im Sinne des kirchlichen Auftrags unterwegs und haben einiges Positive für die Menschen und die Region mitbewirkt. Unsere Aufgabe war, Brücken zu schlagen zwischen Kirche und Arbeitswelt, als Kirche im Betrieb tätig zu sein und die Arbeitswelt in der Kirche zum Thema zu machen. Wir haben Betriebe besucht, Gottesdienste mit Landwirten, Bergleuten und Stahlwerkern gefeiert, an der Seite der Kumpel gestanden, als es um den Kohlekompromiss ging. Wir haben Fortbildungen organisiert, und mit Auszubildenden der Stahlindustrie Seminare durchgeführt, um die Achtung und Respekt füreinander am Arbeitsplatz zu fördern. Ich bedauere sehr, dass die rheinische Kirche dieses Arbeitsgebiet, das die Präsenz in den Betrieben garantiert, nicht fortsetzt.“
Der leidenschaftliche Fußballspieler geht jetzt in den Ruhestand. In seinen verschiedenen Arbeitszusammenhängen hat er sich schon verabschiedet, den großen Bahnhof mit Abschiedszeremoniell wünscht er nicht. „Ich mache ja weiterhin, was mir etwas bedeutet hat - aber das Ganze mit mehr Zeit.“ Etwa als Ombudsmann für die Loveparade-Opfer. Oder die Schulungen mit Auszubildenden im Nationalen Befreiungsmuseum und im Museumspark Orientalis im niederländischen Groesbeck, wo es um den Zweiten Weltkrieg, Faschismus und als Gegensatz Toleranz, Respekt, Zivilcourage und Solidarität geht. „Es wird sich also nicht alles für mich ändern.“
[dreieck][/dreieck] Mit Jürgen Wideras Weg in den Ruhestand soll die KDA-Arbeit in die Arbeit des „Evangelischen Laboratoriums“ überführt werden, eine Veranstaltungsplattform, die der KDA gegründet hat.
[dreieck][/dreieck] Es untersucht die sozialen und ökonomischen Beziehungen auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes, sucht das Gespräch mit Wirtschaft, Gewerkschaft und Politik, ist seelsorgerlich für Arbeitnehmende wie Unternehmensleitende tätig und organisiert Fortbildungen.
[dreieck][/dreieck] Weitere Informationen und das Programm des Ev. Laboratoriums zum Download: www.ev-laboratorium.de

(Quelle: KDA)

Autor:

Kerstin Halstenbach aus Herten

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