Alle Jahre wieder

Während meiner Kindheit waren die Vorbereitungen in der Vorweihnachtszeit im Gegensatz zur heutigen Hektik, ein laues Lüftchen. Doch dann kam der Heiligabend. Total entspannt saß mein Vater mit einem Brötchen und einer Tasse Kaffee am Frühstückstisch. Meine Mutter holte Luft und stellte an meinen kauenden Vater die, rein rhetorische, Frage aller Fragen: "Hast du schon einen Weihnachtsbaum gekauft?" Die Taktik meines Vaters war, erst einmal die Ohren auf Durchzug zu stellen, um so Zeit zu schinden. "Du hast mir versprochen, dich dieses Jahr rechtzeitig um den Baum zu kümmern."

Jetzt musste mein Vater reagieren, die Taktik des Ignorierens zog nicht mehr.
"Wie viele willst du haben?"
"Einen, und heute noch wäre schön."
"Ist doch überhaupt kein Problem, nach dem Frühstück fahre ich los und kaufe den schönsten Baum, den du jemals gesehen hast." Meine Mutter grinste ihn nur mit hochgezogenen Augenbrauen bedeutungsvoll an.

"Papa, darf ich mitfahren?" Mein Vater bejahte meine Frage und schon ging es los. Wir saßen in unserem Auto und mein Vater schaute recht unentschlossen drein. Mir war klar, dass er so gut wie keinen Plan hatte. Doch das wollte er sich auf keinen Fall anmerken lassen. "Papa, wo fahren wir denn hin?"
Mit fester Stimme antwortete mein Vater: "Den Baum holen wir mal eben bei dem Kohlenhändler, der verkauft dieses Jahr auch Tannenbäume." Na dann, wir hatten schon die Jahre zuvor am Heiligabend dort keinen mehr bekommen. Es gab nur einige wenige Verkaufsstellen für Weihnachtsbäume. Da hieß es, rechtzeitig einzukaufen, denn wenn weg, dann weg.
Also erst einmal auf zum Kohlenhändler. Draußen war es so richtig schön kalt. Schnee und Eis verwandelten die Landschaft in ein Wintermärchen. Nachdem mein Vater sein Anliegen vorgebracht hatte, schaute uns der Mann nur unwillig an.
"Jetzt noch einen Baum, am Heiligabend? Nee, hab keinen mehr." Tja, und jetzt? Mein Vater wäre nicht mein Vater, wenn er so schnell aufgegeben hätte. "Ich glaube am Kanal wohnt ein Mann der Tannen privat verkauft."

Dort angekommen, war dieser ominöse Mann erst nach mehrmaligem Klingeln, Rufen, Klopfen und Umrunden seines Hauses bereit, uns die Haustüre zu öffnen. Niemals hat dieser arme Mann damit gerechnet, jetzt noch nach einem Weihnachtbaum gefragt zu werden. Aber er blieb ganz ruhig und gab uns zu verstehen, dass wir uns diesen Gedanken mal ganz schnell abschminken sollten. Nicht einen noch so kleinen Tannenbaum hatte er mehr. Jetzt zog mein Vater wirklich alle Register. Seine Sätze trieften nur so von "Tochter, Weihnachten, das arme Kind, Ehefrau….."
Ganz ehrlich weiß ich nicht, wie mein Vater es doch noch geschafft hat, aber wir bekamen unseren Baum. Zwar relativ klein und mickrig aber immer noch besser als nichts.
Denke, der Mann hat vor lauter Mitleid mit uns, noch schnell eine seiner Tannen abgesägt.

Wieder zu Hause angekommen, trug mein Vater triumphierend seine Beute an meiner Mutter vorbei in den Keller. Dort sollte das große Einstielen in den Baumständer stattfinden.
"Wo ist die Axt und die Säge?" rief mein Vater aus den Tiefen des Kellers.
Bei dem Wort Axt wurde meine Mutter immer ein bisschen fahl im Gesicht. Zu Recht, denn handwerklich war mein Vater nicht gerade mit Geschick gesegnet.

Ich hielt mich wohlweislich nicht in der Nähe des Kellers auf. Da blieb ich doch lieber in der warmen Küche und half meiner Mutter bei der Zubereitung des Kartoffelsalates. Beim Schnippeln der Gurken sang ich, zur "Belustigung" meiner Mutter, inbrünstig und schön schräg ein Weihnachtslied nach dem Anderen. Irgendwann hörte das Sägen und Hämmern auf und mein Vater kam mit dem Baum nach oben in die Diele. Beziehungsweise mit dem, was davon noch übrig war. Der Gute war schon vor dem Einstielen nicht der Größte, doch jetzt war er nur noch kümmerlich und schief. Die Nadeln lagen mehr auf der Kellertreppe, als dass sie noch am Baum waren. "Wenn erst einmal die Kugeln, die Kerzen und das Lametta dran sind, erkennst du ihn nicht wieder." Meine Mutter verdrehte nur die Augen. Doch dann stand er im Wohnzimmer und wartete auf seine Metamorphose. Die Kisten mit dem Weihnachtsschmuck hatte meine Mutter uns schon vorher hingestellt, so dass wir nur noch mit unserem Werk beginnen mussten. "Aber ohne Engelshaar, und die großen Kugeln nach oben und die kleinen nach unten." Alles klar.

Dann legten wir los. Wie sehr habe ich diese Christbaumkugeln geliebt. Eine schöner und filigraner als die Andere. Vorsichtig banden wir mit Nähgarn den hauchdünnen Schmuck an die Tanne. Danach klemmten wir die bunten Wachskerzen an die Zweige und hängten zum Schluss das silberne Lametta über den Baum. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Uns allen gefiel er ausnehmend gut.

Abends saßen wir einträglich zusammen. Jetzt kam die große Stunde des Anzündens der Kerzen und der Wunderkerzen. "Petra, hol mal bitte die Streichhölzer." Es waren im ganzen Haus keine Streichhölzer zu finden. Aber ich hatte ja schon auf den Einfallsreichtum meines Vaters hingewiesen. Er ging in die Garage, startete das Auto, entflammte an dem Zigarettenanzünder erst ein Blatt Papier und daran dann eine Kerze.
Beim Rausgehen aus der Garage war die Flamme schon bei der ersten Windböe aus. Nach weiteren Fehlversuchen nahm meine Mutter endlich die brennende Kerze durch unser Dielenfenster an, und trug sie wie die olympische Fackel ins Wohnzimmer.

Heiligabend war gerettet, der Kartoffelsalat und die Würstchen schmeckten herrlich, meine Geschenke waren toll und ich hatte mal wieder einen lustigen, abwechslungsreichen Weihnachtstag.

© pefito

Autor:

Petra Tollkoetter aus Dinslaken

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