Literatur Hotel Preis 2012: Nadia Kraam "Das Lehmhaus"
Als wir das kleine Lehmhaus betraten, überfiel mich ein beklemmendes Gefühl, eine Vorahnung, dass mich hier etwas Grauenvolles erwartete. Das Haus war spärlich ausgestattet. Ein kleiner, handgewebter Teppich mit dem typisch afghanischen Elefantenfußmuster bedeckte den Boden. Die verschiedenen Nuancen von rot, die den Teppich dominierten, stachen mir direkt ins Auge. Der Teppich erinnerte mich an mein eigenes Zuhause in Köln.
Trotz der für diese Bergregion üblichen klirrenden Kälte spürte ich für ein paar Sekunden Wärme. Mir wurde bewusst, dass die Einrichtung in meiner Wohnung von Anfang an orientalisch inspiriert war. Afghanische Teppiche waren fester Bestandteil meiner Bleibe, unabhängig davon, wie oft ich umzog. Das typisch achteckige Muster Goll, Blume, das abwechselnd im Mittelfeld angelegt war, umgeben von mehreren Bordüren am äußeren Rand des Teppichs, ließ mich für eine Weile in Gedanken schwelgen.
Wie viele Diskussionen hatte ich mit Mitbewohnern geführt, die diese Teppiche als zu bunt empfanden. Am Ende siegte stets mein starker Wille. Die Teppiche blieben, die Mitbewohner gingen, wenn auch aus anderen Gründen.
Mir wurde erst mit den Jahren bewusst, dass das Festhalten an den besagten Teppichen einen viel tieferen Sinn hatte als reines Stilempfinden. Damals wie heute geben sie mir ein Stück Heimat, ein Stück Identität in einem fremden Land, dessen Sprache ich erlernen musste.
Tim teilte aus anderen Gründen meinen Geschmack. »Ich liebe dich samt Inventar!«, waren seine Worte, als er bei mir einzog. Und so blieb es bis heute. Mein Blick wanderte weiter. In der Ecke befand sich ein Ofen, eine Lehmgrube, an deren heißen Wänden in besseren Zeiten Brotfladen gebacken wurden. Jetzt war der Ofen kalt. Ein alter Holzstuhl, dessen rechte Armlehne abgebrochen war, lehnte an der Wand, ein paar bestickte Rückenpolster waren auf einer alten Matratze liebevoll angeordnet und dienten als Sitzgelegenheit. In der Ecke stand eine Wasserpfeife, Chelam, an der Wand neben dem Fenster hing ein Gebetsteppich.
Wir traten langsam näher. Plötzlich hörte ich ein leises, kaum hörbares Schluchzen. Durch Handzeichen bat ich Tim um Stillschweigen. Wir spitzten die Ohren. Ich hörte meinen Herzschlag lauter werden und versuchte mich krampfhaft auf das Wimmern zu konzentrieren. Unsere Blicke fielen gleichzeitig auf eine kleine hölzerne Tür, die durch einen schweren Stoffvorhang fast gänzlich verdeckt war. Langsam bewegten wir uns darauf zu. Mein Atem stockte. Tim schob den Vorhang beiseite und öffnete langsam die Tür.
Kaum war die Tür einen Spalt offen, kam uns ein beißender Gestank entgegen, der mir den Atem raubte. Unwillkürlich stieß ich einen Schrei des Ekels aus und hielt mir Mund und Nase zu. Es war ein leicht süßlicher Geruch, vermischt mit dem Gestank von Kot und Urin. Wir wussten sofort, dass in dem Raum hinter der Tür eine Leiche liegen musste. Das stärker hörbare Wimmern riss uns aus dem Schockzustand heraus, Tim öffnete energischer die Tür.
Hinter ihr verbarg sich eine steile Holztreppe, die nach unten in einen Keller führte. Unbeirrt vom Gestank schnellten wir mit einer Taschenlampe gewappnet nach unten. Die Vermutung, den Anblick des Grauens vorzufinden, sollte sich bewahrheiten. In meiner ganzen beruflichen Laufbahn als Ärztin hatte ich kein vergleichbares Elend gesehen. Trotz intensiver Vorbereitung auf den freiwilligen Einsatz in diesem Kriegsgebiet war die Realität offensichtlich zu brutal für mein Nervenkostüm. Auf einem alten Bett lag eine Frau, die der Hautverfärbung nach erst seit zwei Tagen tot sein konnte. Sie lag friedlich da, ihre Augen waren geschlossen, das Lächeln war in den letzten Sekunden vor ihrem Tod zu einer Grimasse erstarrt. Ihr linker Arm lag ausgestreckt, sie hielt etwas fest.
Während Tim leise zu mir sprach, fokussierten sich meine Augen auf den ausgestreckten Arm. Ich musste wissen, was diese Frau so krampfhaft festhielt und bewegte mich zur anderen Seite des Bettes. Mir fiel auf, dass das Wimmern nicht mehr zu hören war, seit wir uns in dieser schrecklichen, düsteren »Grube«, die als Schlafstätte gedient hatte, umsahen.
Ich richtete meine Taschenlampe auf die Hand der Toten. Plötzlich bewegte sich ihr Arm und ließ mich zusammenfahren. »Tim!«, hörte ich mich laut rufen. Tim schnellte zu mir und zog den Arm der Toten vorsichtig nach oben. Er spürte Widerstand, gleichzeitig wurde das Wimmern hörbar. Was unter dem Schein der Taschenlampe sichtbar wurde, war an Tragik kaum zu überbieten. Unter dem hölzernen Bett kauerte ein kleines Mädchen, das die Hand der alten Frau festhielt und sich vermutlich, nachdem die Leichenstarre eingetreten war, nicht befreien konnte. Das kleine zarte Wesen war dazu verdammt, in dieser Grube zu verdursten – wenn wir nicht zufällig aufgetaucht wären.
Das Mädchen zitterte am ganzen Leib, sie war offenbar zu schwach gewesen, um wirkungsvoll auf sich aufmerksam zu machen. Niemand war ihr zu Hilfe gekommen. Der Anblick des leidvollen, ängstlichen Gesichts der Kleinen sollte sich tief in mein Gedächtnis einbrennen. Ich kniete mich zu ihr. Der Schein meiner Taschenlampe blendete sie so sehr, dass sie mit ihrer freien linken Hand ihr kleines Gesicht vergrub. Ihr Kleid war zerrissen, ihre Haare zerzaust, sie war verdreckt.
Wie viele Stunden hatte sie hier wohl verbracht? Wie lange musste sie verzweifelt geschrien haben? Wann hatte sie das letzte Mal etwas gegessen?
Sie musste so schnell wie möglich hier raus. Während Tim ihre kleine Hand von der Toten befreite, sprach ich sie auf Dari an, ich versicherte ihr, dass wir Freunde wären und sie hier rausholen würden. Kaum hörte sie den Klang ihrer Muttersprache, streckte sie mir ihre zitternde Hand entgegen, voller Hoffnung schaute sie mich mit ihren Mandelaugen an. Ich hatte noch nie zuvor so wunderschöne, warme, braune Augen gesehen.
Autor:Dr. Nadia Kraam aus Dinslaken |
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