Literatur Hotel Preis 2011 - Renate Quecke "Die Frau, die nichts mehr wissen wollte"

Eine Frau bekam den Auftrag einer Zeitschrift etwas Positives über das Älterwerden zu berichten. Gerade hatte sie das 55. Lebensjahr erreicht und haderte noch ein wenig mit sich. Der morgendliche Blick in den Spiegel zeigte zwar ein ganz passables Aussehen, die Herrichtung für den Tag dauerte jedoch etwas länger als früher. Nicht, dass sie beim Sich-Zurechtmachen übertrieb, das lehnte sie ab, aber hier und da ein bisschen nachhelfen wollte sie schon, um mit sich im Einklang zu sein. Die Kleidung dagegen wurde zunehmend ein Problem. Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie bei h&m den ein oder anderen Fummel aus dem chaotischen Kleidersortiment zog, um dann zu Hause festzustellen, dass sie damit nicht mehr sie selbst war. Die Einsicht, dass sich etwas verändert hat, kam ihr auch kürzlich auf einer Geburtstagsfeier. Sie befand sich plötzlich nach Mitternacht allein unter jungen Müttern und Vätern, die über die richtige Schulform für ihren Nachwuchs mit großem Ernst berieten. Da merkte sie, dass es gar nicht mehr ihr Thema war. Ihre Kinder waren schon lange aus dem Haus. In der Küche las sie pflichtbewusst die Berichte mit all den Hiobsbotschaften und den wirklichen Problemen aus Wirtschaft und Politik. Sie wusste jedoch, dass sie die Welt auch nicht besser machen konnte. Dennoch hatte sie kürzlich erst an einer Antiatomkraftdemo teilgenommen, um ihrem sich eben erst als richtig herausgestellten Standpunkt Nachdruck zu verleihen. Sie war mit dabei gewesen und hatte ein weniger schlechtes Gewissen. Nun ist sie 55. Ein großer Teil des Lebens ist vorbei. Schlimme Schicksale blieben bisher draußen, Probleme wurden bewältigt. Zur Zufriedenheit würde ihr jeder Vernünftige raten, auch wenn sich ihr Leben nicht in einem Loft in New York, sondern in einer unspektakulären deutschen Mittelstadt abspielte. Wie aber geht es weiter? Sie wusste, dass nicht mehr allzu viel Neues möglich war. Die Weichen waren schon lange gestellt und abgefahren worden, eine gewisse Trägheit im Blick auf Neues konnte sie vor sich nicht leugnen. Was ist daran eigentlich so schlecht, dachte sie in dem Augenblick als das Telefon klingelte. Der Redakteur erinnerte sie an den Abgabetermin. Im Keller wartete ein Berg Wäsche auf sie. Bügelwäsche lag oben auf dem Bügelbrett, die Zimmerpflanzen brauchten dringend Wasser. Sie setzte sich an den Laptop und begann zu tippen: Die Geschichte von der Frau, die nichts mehr wissen wollte. Sie wollte nicht mehr wissen, wie man schnell ein leckeres Gericht für 6 Personen kocht und welches Putzmittel Fettränder löst, sie wollte nicht mehr wissen, wie man abends mit Small-talk Gäste vergnügt und das Weihnachtsfest überlebt, sie wollte nicht mehr wissen, wie man entspannt durch den Alltag kommt und seinem Mann den Rücken frei hält. Sie wollte die Ratschläge aus den Zeitschriften nicht mehr hören. Von all dem wollte sie nichts mehr wissen. Sie wollte sich noch einmal neu erfinden. Erneut klingelte das Telefon. Eine Freundin. Sie war in der Nacht verlassen worden. Ihr Mann hinterließ einen Brief und Geld. Sie bat um Unterstützung und Hilfe. Es wurde Tee gekocht, das anfängliche Schweigen unterbrochen und geredet, wie es nur Frauen können. Sie erinnerten sich an all das, was sie schon überstanden hatten, stärkten sich den Rücken. Sie hatten jahrzehntelang ein Familienleben organisiert und ihren Job dazu erledigt. Hatten viele Krisen und Krankheiten bewältigt und Kinder erzogen. Sie waren brave, fleißige und starke Frauen gewesen. Vielleicht zu brav, dachten sie jetzt. Sie wussten beide, dass es auch jetzt auf die richtigen Gedanken ankommt. Annehmen, was man nicht ändern kann, allmählich loslassen um Neues zu erfahren. Die Frau, die nichts mehr wissen wollte, las sie später. Sie bekam Zweifel. Warum eigentlich? Sich neu erfinden? Was für eine seltsame Idee, angesichts der Ereignisse, die uns das Leben wie bei Ebbe und Flut alltäglich zu spült. Ich will mein Wissen behalten und es anwenden. Lösungen finden wir nur in uns selbst, dachte die Frau.

Autor:

Renate Quecke aus Dinslaken

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