Literatur-Hotel-Preis 2011: Peter Schikora "Lautverschiebung"

Peter Schikora.

Kulturphilosophische und anthropologische Betrachtungen über Sedimente des Sinneswandels

Ohne Frage ist es die Aufgabe des Philosophen einen aufmerksamen Blick auch auf die Dinge zu werfen, die im Sosein des Hierseins am Rande des alltäglichen Interesses liegen.
Deutlicher, als es noch vor wenigen Jahren der Fall gewesen ist, ermöglicht die Globalisierung der Informationstechnik einen vergleichenden blick auf unterschiedliche Gesellschaftssysteme und ermöglicht, ihre Eigenarten besser zu erkennen und einer kritischen Würdigung zuzuführen. Unterschiedliche Altersstrukturen im Vergleich der Kulturen sind ein inzwischen populäres Beispiel dafür und soll den Kolumnisten beidseitig abseits philosophischer Holzwege überlassen bleiben.

Wir sehen genauer hin und fokussieren eine einzelne, zwar wenig beachtet, dennoch bemerkenswerte Beobachtung. Um die Anonymität und zugleich auch Sachlichkeit zu wahren sei erlaubt, das Beispiel scharfzeichnend zu abstrahieren.

Eine Dame - könnte auch ein Herr sein, würde jedoch in diesem Kontext etwas sperrig wirken – in bestem jugendlichem Alter ( Anm.: Das bedeutet mit Verweis auf aktuelle Populationswerte mindestens fünfzigjährig ) erholt sich nach dem Auszupfen unansehnlich gewordener Geranienblüten auf einer Gartenbank und stärkt sich gesundheitsbewusst mit Erdbeeren, verziert mit einem Häubchen Sahne, letztere jedoch kalorienfrei. Die Kombination fruchtig en Saftes und Sahne lässt nun eine dieser gesunden und gleichwohl kulinarischen Köstlichkeiten dem Munde entschlüpfen, um rhythmisch den freien Fall unterbrechend über Kragen, Bluse, Schälchen und den weiß gekleideten Schoß zu erreichen.

Es kann jetzt nicht Ziel der Betrachtungen sein, die Folgen der rot pigmentierten zuckersüßen Spuren zu reflektieren, weder den Waschgang betreffend, noch in der Auswirkung auf des Instinktverhalten streunender Wespen. Es geht um mehr und dies ist nur ein Beispiel, das erklärt, warum es zu einer kulturgeschichtlich bedeutenden Veränderung kommen konnte, die sich am geeignetsten durch eine sprachliche Veränderung nachweisen lässt.

Während in früheren Generationen die Redewendung – also gemeinhin jedermann verständliche sprachliche Formel eines Inhaltes – „Klappern gehört zum Handwerk“ zum allgemeinen Kulturgut gehörte, deutet vieles darauf hin – und das verdeutlicht mein Beispiel, dass sich die Wendung „Schlabbern gehört zum Mundwerk“ mehr und mehr im kollektiven Bewusstsein verankert.

Was bedeutet das?

Ist es so, dass sich die immer junge Generation der sechsundachtzig gewordenen Achtundsechziger damit abgefunden hat auf der positiven X-Achse der parabelförmigen Lebenskurve fortschreitend gerade Jenes wieder lustvoll zu akzeptieren, was vertraglich dazu verpflichtete mit Blumen bekränzte Pflegerinnen in den Wohngemeinschaften zum Wahnsinn treiben kann?

Bedeutete „Klappern gehört zum Handwerk“ noch Ausdruck gestaltender Willensentfaltung und Sinngebung, signalisiert nun die Bedeutungsverschiebung zu „Schlabbern gehört zum Mundwerk“ die Akzeptanz postnataler Einnässungen der Generation, die sich in dauerndem Kampf um die schönsten Schnabeltassen und die attraktivsten Pflegerinnen befindet. Auf die spätpubertären Machtkämpfe und die attraktivsten Gehhilfen soll hier nicht eingegangen werden. Die Parallelwelt der Senioren im Vergleich der Motorisierung ihrer Elektrofahrzeuge als Ausdruck einer neuen Hierarchisierung mit den unterschiedlichen Attributen wie Halterungen für Coffee-To-Go Halterungen oder Iso-Drink-Dosen muss einer gesonderten Betrachtung vorbehalten sein. Auch auf Geschwindigkeitsüberschreitungen oder Überbreiten dieser teilweise gewissenlos gelenkten Fahrzeuge in Fußgängerzonen kann nur am Rande verwiesen werden.

Ohne Zweifel lässt sich also ein Wertewandel konstatieren. Wo früher noch ein knochiger Rentner am Zaun seines Altenteils einen Krückstock schwang, um ungebetene Gäste zu vertreiben, Erdbeeren und junge Erbseenschoten zu verteidigen, spiegelt sich Hierarchisierung und Klassifizierung mehr in der Verteidigungsbereitschaft für elektrisch verstellbare Betten, Kabelanschlüsse und Aufzugverbindung zur Tiefgarage wieder.

Eine moralische Wertung der Beobachtungen kann nicht die Aufgabe dieser Betrachtung sein. Der Hinweis sei jedoch gestattet, dass es durchaus nicht auszuschließen, dass in absehbarer Zeit sich in marodierenden Gruppen zusammenfindende Rentner als Phalanx formatiert provokativ durch Fußgängerzonen und Shoppingcenter bewegen werden und den Welpenschutz einfordern, der ihnen in der Kindheit vor den Achtundsechzigern verweigert wurde.

Autor:

Caro Dai aus Essen-Werden

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