Literatur-Hotel-Preis 2011: Ina Gawel "Dramatische Kunst"
Mein Herz raste. Jede Zelle meines Körper schien vor Panik zu schreien. Ich sah auf das Zifferblatt meiner Armbanduhr: noch vierzig Minuten. Es blieb nicht mehr viel Zeit. Der Bleistift kratzte auf dem Papier vor mir, zuckte unter den hektischen Bewegungen meines Armes. Ein Blick nach links. Eva starrte gedankenverloren einen monumentalen Wasserfleck an der Decke an. Ihre Gesichtszüge wirkten seltsam entrückt – als wüsste sie nicht, dass das Ende nahte. Und wie es das tat. Meine Finger krallten sich fester um den Bleistift in meiner Hand. Doch das selige Lächeln meiner Nachbarin blieb unverändert. „Eva. He, Eva!“, zischte ich ihr ins Ohr. Doch sie reagierte nicht. Das lange schwarze Haar hing bis auf den Tisch, drapierte sich auf dem weißen Blatt seiner Trägerin wie willkürliche Pinselstriche. „Eva! Wieso tust du nichts?“ Doch mein Versuch misslang. Ich wandte mich ab, wusste sie ihrem Schicksal gnadenlos ausgeliefert. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich hatte den Bleistift in meiner Hand zerbrochen. Es blieb keine Zeit für Höflichkeiten. Ich eignete mir grabschenderweise das unbenutzte Werkzeug Evas an und führte die anthrazitfarbenen Linien weiter. Weiter, weiter ins Verderben. Kalter Schweiß rann meinen Nacken hinab. Und derweil verwandelten sich die Linien auf meinem Blatt in Umrisse, die Umrisse wurden zum Bild – einem Bild das meine Glückseligkeit wahren sollte.
Ich riskierte abermals einen Blick auf meine Nachbarin. Jetzt erst sah ich etwas kleines weißes, Knopfartiges unter ihren schwarzen Haaren schimmern und musste trotz aller Verzweiflung lächeln. Raffiniertes Mädchen. Ich langte nach ihr und zog mit plumpem Griff die Kopfhörer aus Evas rechtem Gehörgang. Ihrer musikalischen Berieselung beraubt drehte sie sich erbost um. „Sag mal spinnst du?“, fauchte sie. „Meine Inspiration!“ „Du lässt dich inspirieren? Lass hören!“ Ich stopfte mir den Kopfhörer ins Ohr. Die Klänge von „Gethsemane (I only want to say)“ aus dem Musical „Jesus Christ Superstar“ reichten völlig um mich aus der Fassung zu bringen. Schulterzuckend entfernte ich die Wurzel des Übels aus meinem Gehörgang. „Was du unter Inspiration verstehst... das ruft vielmehr Alpträume hervor als schöne Bilder. Schon eine Idee? Oder willst du den Schimmelfleck graphisch verewigen?“ Mein Puls hatte sich normalisiert. Im Vergleich zu Eva war meine Zeichnung so gut wie vollendet; eine moderne Interpretation der drei Moiren mit den Gesichtern meiner „Lieblingslehrer“. Eva strich sich das Haar zurück. „Ich hatte gerade einen Geistesblitz - als du meintest mich stören zu müssen. Wenn ich den jetzt nicht ausleben kann weiß ich ja wer dafür verantwortlich ist.“ Ein Todesblick aus Veilchenaugen prallte wirkungslos an mir ab. „Dann bin ich aber gespannt.“, höhnte ich und beschäftigte mich weiter mit meinen Moiren. Meine Nachbarin warf einen geringschätzigen Blick auf das Bild. „Die Moiren? Seh ich das richtig oder wird Klotho von deiner Physiklehrerin dargestellt?“ „Jaa.“, antwortete ich gedehnt. „Immerhin hat sie mir dazu geraten, Physik schriftlich zu wählen.“ Eva nickte verständnisvoll. „Dann ist ihr Gesicht legitim. Das der Lachesis auch. Aber wieso zum Teufel hast du unsere allerliebste und ewig junggebliebene Lateinlehrerin zur Atropos bestimmt?“ Ich hob meine Augenbrauen um sicherlich zwei gute Zentimeter. „Das ist doch offensichtlich. Atropos schneidet den Lebensfaden ab und bestimmt die Todesart. Mich werden Satzglieder und eine schon tote Sprache ins Grab bringen. Latein ist mein Sargnagel. Und Frau Natalie ist meine persönliche Unabwendbare.“ Ich schaute abermals auf meine Uhr. Und drehte mich seufzend zu Eva um. „Du hast noch zwanzig Minuten, Süße. Entweder du malst jetzt diesen hässlichen Fleck von der Decke ab oder du erklärst Herrn Lacroix dass deine Inspiration den Weg alles Irdischen gegangen ist. Hier ist dein Bleistift. Verbindlichsten Dank.“ Eva schnaubte verärgert. „Ich habe Zeit.“ Unwillkürlich drehten meine Augäpfel sich in ihren Höhlen. „Ja klar. Und du hast den Kunst - Leistungskurs nur deswegen gewählt weil die Kurstreffen Sektcharakter haben. Jetzt nimm den Stift und mal um dein Leben!“ Leise entgegnete meine Nachbarin, die Kurstreffen seien tatsächlich ausschlaggebend für ihre Wahl gewesen. Ich beschloss, dies zu überhören und Eva wandte mir den Rücken zu, endlich mit ihrem Bild beschäftigt.
Zehn Minuten später trat Herr Lacroix seinen endgültigen Kontrollgang an – wer das Bild nicht fertiggestellt hatte quittierte nebst einem bösen Blick auch eine schlechte Zensur. Er rückte näher. „Eva!“, zischte ich. „Er kommt! Beeil dich!“ „Halt doch endlich mal die Klappe. Sonst werde ich deine persönliche Atropos, darauf kannst du dich verlassen!“, knurrte es hinter dem Rücken hervor. Also überließ ich sie ihrem Schicksal – das zweite Mal schon in dieser Stunde. Dafür war sie mir aber eine Pizza schuldig, mindestens.
Ich konnte bereits die verdächtig hohe Stimme unseres Lehrers hören, wie er die verschiedenen Werke meiner Mitschüler kritisierte. Und doch zweifelte ich keine Sekunde an Evas Drohung. Vorzeitig aus dem Leben zu treten entsprach nicht so ganz meinen nahen Zukunftsplänen, deswegen klemmte ich meine Hände unter meinem Po ein um nicht der Versuchung zu erliegen, womöglich meine Freundin warnend anzutippen. Doch gerade als ich einen Schwall sauren Atems in meinem Nacken spürte, drehte Eva sich mit ihrem quietschenden Stuhl um – ein triumphierendes Grinsen auf dem Gesicht. „Isch habe fertig.“ „Da bin ich aber gespannt.“, ließ sich Herr Lacroix vernehmen, beugte sich über Evas Blatt und verharrte in dieser Stellung. Ich war hin und hergerissen: unbedingt wollte ich ihren verewigten Wasserfleck begutachten – fürchtete mich aber auch vor der bevorstehenden Explosion der Lehrkraft.
Doch nichts geschah. Ich wagte einen Blick auf Evas Bild. Und sah einen Apfel. Aus dem ein Wurm schaute. Und dieser hatte Evas Gesichtszüge.
„Was soll das denn darstellen?“ Herr Lacroix war mit mit der Frage zuvorgekommen. „Nunja.“ Lässig schlug Eva die Augen auf. „Magda hat sich so kreativ mit den Moiren beschäftigt – da habe ich mir gedacht: warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah. Oder so ähnlich.“ Sie räusperte sich. „Wo ich doch..hrmhrm..prädestiniert bin für ein solches Bild... sozusagen.“ Sie lächelte.
Und erhielt ein „Gut“ für ihr in wenigen Minuten hingeworfenes Zeug. Mir gab Herr Lacroix eine Vier als er seine Kolleginnen in den grotesk verzerrten - aber hervorragend gezeichneten - Schicksalsgöttinen erkannte. Seine Begründung: „Grobe Geschmackslosigkeit!“
Autor:Caro Dai aus Essen-Werden |
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