Literatur-Hotel-Preis 2011: Christine Lodewick "Morgens sechs Uhr dreißig"
Es ist morgens sechs Uhr dreißig. Wieder eine Nachtschicht hinter sich. Heimann ist müde. Er ist hungrig. Gegen einen guten Kaffee und frische Brötchen hätte er nichts einzuwenden.
Er parkt sein Auto unter der Laterne vor dem Haus. Langsam beginnt es zu dämmern. Noch sind die Lichter der Stadt erleuchtet. Aber sie haben nur noch wenig mit der vergangenen Nacht zu tun. Und bald werden die Spuren der Nacht endgültig verschwunden sein. Wirklich verschwunden? Verschwunden in dem langsam erwachenden und jungen Tages?
Ihm macht keiner was vor. Er, seit zehn Jahren bei der KRIPO, weiß genau, wie es sich mit dem Tag und der Nacht verhält.
Heimann steigt aus seinem Wagen, schließt die Tür und drückt auf seinen Autoschlüssel.
"Piep" macht es, und die vier Blinker melden: "Auto geschlossen!".
Heimann fröstelt. Die feuchte, kalte Luft kriecht durch seine Kleidung.
"Jetzt ein frisches Brötchen, einen heißen Kaffee und dann ab ins Bett!", denkt er.
Und sein Blick fällt dabei auf die Bäckerei an der Ecke. Er weiß, geöffnet wird erst um sieben Uhr.
Eine halbe Stunde... Er ist müde. Er friert. Er freut sich auf Brötchen und Kaffee. Er freut sich auf sein Bett.
Wie schon so oft nach der Nachtschicht würde er in der Backstube seine Brötchen bekommen.
Den Bäcker Krenz kennt er sehr gut. Manchmal trinken sie ein Bier oder mehr in der Kneipe nebenan. Und manchmal plaudern sie über Gott und die Welt.
Heimann schlägt den Kragen seiner Jacke hoch und lenkt seine Schritte auf die Bäckerei zu. Ein kleiner Durchgang zwischen der Kneipe und dem Bäckerladen führt in den Hinterhof, wo sich die Backstube befindet.
Ein eigenartiges Gefühl durchzieht ihn. Noch einmal gehen ihm die Ereignisse der letzten Nacht durch den Kopf. Abschalten! Abschalten, so schnell geht es immer noch nicht. Auch nicht nach zehn Jahren.
Er drückt die Türklinke zur Backstube herunter und tritt in den lichterhellten Raum. Wärme und der Duft von frisch gebackene Brötchen schlägt ihm entgegen. Das Getöse von einigen Maschinen ist zu hören.
Komisch! Dieses eigenartige Gefühl verstärkt sich. Noch nie ist ihm so mulmig zu Mute gewesen, wenn er die Backstube betreten hatte. Ein Gefühl wie im Dienst. Wie auf Verbrecherjagd.
"Krenz? Krenz! Krenz, wo steckst du?" Er ruft es in das Getöse.
Vorsichtig, von seinem kriminalistischem Verstand gewarnt, wagt er sich weiter in den Raum.
Da die große Säcke mit dem Mehl, da zwei Körbe mit fertig gebackenen Brötchen. Dort auf dem Tisch die vielen noch als Teig befindlichen und geformten Brötchen. In einer Maschine wird Teig geknetet.
Wärme.
Licht.
Alles mit Mehl bestaubt.
Der Duft von Gebackenem.
Aber kein Krenz zu sehen.
Was ist hier los? Soll er Krenz suchen?
Ihm fällt ein, Krenz hatte ihm, wie bei jeden Kneipenbesuchen erzählt, dass ihm Skinheads gedroht haben. Sie würden ihn umlegen, wenn er nicht eine Art Schutzgeld bezahlen würde. Das hatte er zwar immer und immer wieder erzählt. Und jedes Mal hatte er um Hilfe gebeten. Aber jedes Mal hatte er auch ein gewisses Quantum an Bier getrunken.
Anfangs hatte Heimann das auch ernst genommen. Sogar die Schutzpolizei hatte er gebeten, ein Auge auf die Bäckerei zu werfen. Jedoch ... Nichts! Keine Hinweise! Und, irgendwann hatten die Kollegen damit aufgehört, regelmäßig Streife vor dem Laden zu fahren.
Doch ... Hatte Krenzens Stimme beim letzten Mal nicht anders geklungen?
Ernster?
Ängstlicher?
Hat er nicht ein Vibrieren in seiner Stimme gehört?
Vielleicht sogar überhört?
Ihm wird heiß. Schweißperlen stehen auf der Stirn und über dem Mund. Nass läuft es an seinem Rücken herunter.
"Krenz! Krenz! Wo steckst du?"
Heimann schaut sich um. In jede Ecke. Überall. Nichts!
Der Kriminalbeamte in ihm kommt zum Vorschein.
Angespannt ist er - vorsichtig ist er.
"Was ist los! Noch kein Feierabend?"
Heimann fährt herum und sieht in voller Lebensgröße ...
KRENZ, DER IN DER TÜRE STEHT !!!
Autor:Christine Lodewick aus Dinslaken |
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