Johan Simons eröffnet mit "Accatone" in der Kohlenmischhalle Dinslaken seine Ruhrtriennale-Intendanz:
"Ihr, die hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren dahin ..."
Dantes Höllenschlund in Lohberg zeigt Pasolinis-Accattone-Szenen zu Bach-Kantanten.
Eine europaweit beachtete Theater-Uraufführung in einem Anzeigenblatt „besprechen“ bzw. darüber berichten? Oder: In einer stillgelegten riesigen Kohlenmischhalle Musiktheater mit Sprechtheater-Szenen nach Pasolinis Film-Erstling vor 1200 Zuschauern aufführen? Beides ungewöhnliche Orte. Und beides einen nötigen Versuch wert?
Die fast nur noch als Verwertungskonzern auftretende Ruhrkohle AG (in ein paar Monaten schließt die RAG, wie längst hier in DIN-Lohberg, die letzte Revierzeche) stellt wie anderswo der Ruhrtriennale diese ihre Immobilie. Um dem Salafisten-Image des pittoresken Stadtteils wenigstens ein kulturelles hinzuzufügen (Man hofft natürlich auch, das Gelände zu vermarkten).
Spielort Kohlenmischhalle:
Du sitzt am nördlichen Hallenende auf steiler Tribüne, schaust 200 Meter durch die Riesen-Röhre, statt nie gebauter südlicher Hallenwand ins Grüne. Wie auf ein Watteau-Gemälde, das über die zweieinhalb Stunden eindunkelt. Am Fuße der Abraumhalde hat sich dort im letzten Jahrzehnt die Natur baumweise die einstige Gleisharfe zurückgeholt.
Längs in der Hallenmitte, von Dir weglaufend: Ein neu verlegter Schienenstrang, diese Strecke erhellt von fast 40 Meter hoch hängenden 25 Downlights, anfangs von rechts durch verschmutzte Scheiben und offene Boden-Zugänge vom rötlichen Sonnenuntergang über Lohberg beleuchtet.
Links „auf der Vorbühne“ ein Orchester- und Chorpodest, dazwischen ein kleines Höllenschlund-Loch vor der nur halb zu lesenden alten Podestbeschriftung „Jupiterschacht“, rechts quer ein Standardcontainer mit ausgeschweißten Auftritten an den Schmalseiten und mit Scheinwerfern drin.
Nur den rechts vorn sitzenden ersten Zuschauer-Reihen versperrt der Container die Sicht auf die Tiefe der Halle, da hinten spielen Einzelne des international scheinbar zusammengewürfelten Ensembles des Johan Simons in der Ferne stumme oder mikroportverstärkte Szenen. Wenn ihre Rollen vor oder zwischen Container und Orchester keine Dialog-Szene vorne haben.
In der Weite brennt mal das Pasolini-Feuer. Oder Accattone (Steven Scharf) schiebt für seinen Kreuzigungs-Tod am Ende sein Moped aus der Unschärfe an die nicht vorhandene Rampe: „Jetzt geht´s mir besser!“ (Paosolini) resp. „Jetzt geht´s mir gut.“ (Dramaturgietext für Simons).
Chor Collegium Vocale
Der berühmte Klassik-Dirigent Philippe Herreweghe hat mit Simons aus Bach-Kantaten für seinen Chor Collegium Vocale Gent und dessen Orchester unter seiner Leitung eine spezielle Accattone-Passion zusammengestellt: Anders als sonst bei Bach ein Evangelist „erzählen“ hier Schauspieler Pasolinis Outcast-Szenen aus dem Lumpenproletariat um den Zuhälter Vittorio mit dem titelgebenden Spitznamen.
Schauspieler von unterschiedlichster Prägnanz und Renommee, vom „Theater-heute“-Star bis zum Schloßtheater Celle, mit holländischer oder internationaler Klangfarbe spielen deutsch zusammen oder gegeneinander.
Das Gesetz: Benny Claessens
Simons eigentlicher Star Benny Claessens gibt in der Rolle „Das Gesetz“ eine Art Grande Utilité, wie die Theaterleute sagen. Spielt (oder spricht nur) mit enormer Präsenz in weibisch-hoher Stimmlage verschiedenste Figuren, liegt in seiner kugelrunden Gestalt rauchend im Staubdreckboden und spielt/spricht dazu reg- und ausdrucklos Brutalstes. Oder tänzelt fragil körperliche Auseinandersetzung, die sich etwa mit Sandra Hüller als Accattones Hure Maddalena wie beim Tanztheater auch mal zeitlich versetzt darbietet.
Die einzuführende „Neue“ Stella spielt Anna Drexler in ihrer gewohnt exaltierten Ausgestelltheit.
Spartenübergreifendes heutiges Theater halt, das nicht naturalistisch sein wollend wie im Fernsehen eine Story erzählt, sondern: Emotionen. Simons hat Tänzer und Schauspieler gelernt, bevor er als Glück fürs europäische Theater zur Regie fand.
Fühlbar der positive Einfluss seiner Frau und Schauspielerin Elsie de Brauw, die sich hier uneitel wie keine deutsche Intendanten-Gattin in die Rolle der älteren Prostituierten Amore fügt.
Der Text wirkt öfters leicht verstellt, als habe Dramaturg Koen Tachelet Pasolinis italienische Film-Dialoge aus dem nahe am Original bleibenden Englisch in ein unentschiedenes Deutsch übertragen (lassen): Mal um antikisierende Hochsprache bemüht, mal zeitgenössischer O-Ton des Subproletariats im Zuhälter- und Ganovenmilieu.
Man merkt´s an den rechts und links - wie sich´s bei einer internationalen Musiktheater-Produktion gehört – hängenden Übertitel-Projektionen, die auch die Spielszenen-Dialoge in treffendem Englisch und schlauer sein wollendem Deutsch zweisprachig zum Mitlesen begleiten. Bei den Original-Gesangstexten nämlich stimmt´s perfekt.
Auch im Leittext des deutschen Dramaturgie-Teils kommt es zu Groteskheiten wie der ahnungslosen These „Dinslaken ist ein Produkt der Industrialisierung.“, gemeint ist sicher Lohberg.
Solch Stubenhocker-Weltferne hält Briketts für Steinkohle. Und lädt einerseits den brillanten Südkoreaner Byung-Chul Han, Philosoph aus Berlin - und als „Spieltheoretiker“ Varou-fakis-Kollege - zur allerersten Triennale-Festspielrede vor der Eröffnungspremiere in die Lohberger Zentralwerkstatt. Aber falsch einschätzend dann wiederum die für passend populär gehaltene WDR-Talkerin Böttinger zur Diskussion „Die Zukunft den Arbeitslosen!“.
Politik- und triennalefördernde Wirtschafts-Elite des Reviers folgte den Erkenntnissen von Mr. Han verblüfft, verlor dann Aufmerksamkeit wie Geduld beim <a target="_blank" rel="nofollow" href="http://www.lokalkompass.de/dinslaken/?page=content%2Fwrite.php&docid=574610&docuser=327">Diskussionsversuch</a>, ganze Lichtjahre entfernt statt dreihundert Meter von Lohbergs Realität.
Auch als der Bürgermeister-Ehren-Stellvertreter sich sozialarbeitermässig in Subproletariat-Thesen verstrickte und, für die Dauer der Diskussion, nachmarxistisch und nachdemokratisch „Revolution“ als einzige Lösung nannte.
Allerdings, der großartigen Theater-Uraufführung von Johan Simons und seiner Truppe taten und tun bis 23. August diese verzeihlich kleinen Mängel in Programmheft und riesigem Rahmen-Programm nicht den geringsten Abbruch:
„Accattone“ ist Theater auf Weltniveau, großartig konzipiert und von wahrhaft europäischer Truppe umgesetztes Erwecken von fataler
O-Mensch-Verzweiflung. Tiefe Traurigkeit über die Hilflosigkeit menschlichen Strebens erfasst den Zuschauer, während sich am Spätsommerabend das grüne Fenster zum Himmel in der bedrohlichen Halle während gar nicht langer 150 Minuten in den schwarzen Höllenschlund der Aussichtslosigkeit verwandelt.
Allen Heiland-Texten der Bach-Kantaten und Pasolinis einstiger Klerikal-Provokation zum Trotz bleibt da nichts Religiöses in diesem menschengemachten Pessimismus der gewaltigen Architektur übrig.
So wenig wie bei den Jungmännern aus Lohberg, die prompt nach der Zechenschließung von Lehrerin und Sozialarbeiter unbemerkt zu Halsabschneidern wurden, grad mal 300 Meter von hier indoktriniert.
Johan Simons hat sich zum indirektesten Bezug dazu entschieden, ohne jedes platte Zitat hat er mit den Mitteln großer Welt-Kunst den Schmerz über dieses Menschen-Versagen ausgedrückt. Es ist sehr erlebenswert, jenseits aller Diskussionen und Ausreden. Für die kommenden Vorstellung am 20. / 23. August gibt es noch Karten.
Besetzung und Mitwirkende:
Benny Claessens - Das Gesetz
Steven van Watermeulen – Der Dieb/Ballila
Lukas von der Lühe – Renato
Mandela Wee Wee – Pio
Pien Westendorp – Io
Laura Mentink – Aszensa
Jeff Wilbusch – Cartagine
Countertenor – Damien Guillon
Tenor – Thomas Hobbs
Bass – Peter Kooij
Collegium Vocale Gent
Komposition – Johann Sebastian Bach
Autor – Pier Paolo Pasolini
Musikalische Leitung – Philippe Herreweghe
Regie – Johan Simons
Bühne – Muriel Gerstner
Kostüm – Anja Rabes
Licht – Wolfgang Göbbel
Soundscapes – Steven Prengels
Sounddesign – Will-Jan Pielage
Dramaturgie – Koen Tachelet, Tobias Staab
Musikdramaturgie – Jan Vandenhouwe
Autor:Caro Dai aus Essen-Werden |
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