Dinslakener-Hotel-Literatur-Preis 2011

Jess Geiger, August 2011, Borkum
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Im Regenland, oder: Sommer – ein Witz, ein Fremdwort oder ein Suchspiel

Im August fuhr ich mit drei Freundinnen auf eine ostfriesische Insel, auf der Sommer noch kein Fremdwort war. Andrea hatte Fotos im Internet gesehen, auf denen braungebrannte, glückliche Menschen schwitzend am Strand lagen. Sie meinte, alles, was wir dort bräuchten, wären Strandmatten, Badelaken und Schirmmützen gegen fliegende Ameisen. Als wir nach stundenlanger Fahrt mit Auto, Fähre und Zug auf der unbekannten Insel ankamen, regnete es in Strömen. Mein Schirm hauchte beim ersten eisigen Windstoß sein Leben aus. Jedes menschliche Wesen rannte in Regenjacke und Gummistiefeln herum. Wir boten in unseren Jeansjacken den Anblick von Außerirdischen, die auf dem falschen Planeten gelandet waren.
Für unsere erste Insel-Erkundungs-Tour liehen wir uns Fahrräder. Da es plötzlich auch noch saukalt wurde, zog ich zwei Jacken von Claudia über meine. Kaum waren wir unterwegs, regnete es wie aus Eimern, es blitzte und donnerte, als ginge die Welt gleich unter. Ein Unwetter, das so fehl am Platz war wie ein Loch im Kopf, und immer trifft es einen unerwartet.
Innerhalb von Minuten waren wir bis auf die Unterhose klatschnass. Franziska schrie durch den peitschenden Regen: „Wenn die steife Brise die Botox-Spritze ersetzt“, und ich dachte: „Ohne Claudias Jacken wäre ich schon erfroren, und wie gut, dass ich – eigentlich als Scherz – meine Winter-Woll-Schirmmütze eingepackt habe, weil ich sonst keine Schirmmütze besitze, und Fuck – was für ein Scheißwetter, und das Mitte August …“ Alles, was ich von der Insel sah, war der Vorderreifen meines Fahrrads und die Rinnsale von Regenwasser, die sich von meiner Woll-Schirm-Mütze Richtung Hose vorarbeiteten. Was für ein Einstieg in meinen heiß ersehnten Sommer-Urlaub! Der Wind peitschte ins Gesicht, das Meer konnte ich nur noch riechen und da Andrea sagte, dass es auf der rechten Seite liegt, wusste ich wenigstens, dass es existierte, was mich irgendwie beruhigte, oder auch nicht. Einen Horizont gab es nicht, Meer und Watt schon mal gar nicht, alles verschwand in einem einheitlichen grau. Wir flüchteten wie vor einem Erdbeben nach Hause und zogen unsere Ersatzklamotten für den Notfall schon nach fünf Stunden Inselaufenthalt an. Ich versuchte, meine Schuhe trocken zu fönen, was aber nicht wirklich funktionierte und hieß, dass ich vier Tage in nassen Schuhen herum laufen würde. Wir beschlossen, Regenjacken zu kaufen und gingen shoppen. Etwas anderes blieb uns hier sowieso nicht übrig. Erst deckten wir uns ordentlich mit allerlei witzigen alkoholischen Getränken ein, dann stürmten wir den ersten Laden und verweilten dort bis zum Abend. Die Friesen sind netter, als wir dachten und die Besitzerin kümmerte sich um uns, als wären wir ihre eigenen Töchter. Allerdings war in meiner Größe alles ausverkauft. Meine Freundinnen luden alles, was sie am Leib haben, auf mir ab und kauften den halben Laden leer. Wir hielten uns so lange und vor allem so selbstverständlich dort auf, dass andere Kunden uns bereits für zugehörig befanden und um Rat baten. Eine ältere Dame hielt Franziska eine Regenjacke entgegen: „Haben Sie die auch in 44?“, worauf Franziska professionell antwortete: „Ich frag mal nach. Allerdings wäre eine andere Farbe vorteilhafter.“ Die Jacke passte, die Kundin war happy und so drückte sie Franziska eine Plastikkarte in die Hand. „Nehmen Sie auch EC-Karten?“ Franziska nickte.
Ich brach mittlerweile unter den Tonnen von Klamotten und Taschen, die ich in meinen Armen hielt, fast zusammen. Trotzdem startete ich eine Fotosession. Wir packten die Besitzerin in unsere Mitte und knipsten drauflos. Es blieben die einzigen Bilder aus diesem Kurzurlaub. Auf den Fotos sieht es aus, als halte ich einen Säugling in den Armen, mit Claudias weißer, herunter hängender Jacke könnte es sich fast um einen Täufling handeln. An diesem Abend leerten wir diverse Fläschchen mit eigenartigen Bezeichnungen, zum Beispiel Borkumer Fasanenbrause, Schlick-Rutscher, Küstennebel, Letzte Rettung und Leuchtfeuer.
Am nächsten Tag verließen wir trotz des Unwetters todesmutig das Haus. Ich zog alles an, was ich besaß und fror trotzdem. Hätte ich einen Schlafanzug dabei, hätte ich ihn auch noch drunter gezogen, aber wegen der Strandmatte war ja kein Platz mehr. Die Suche nach einer Regenjacke verlief wieder erfolglos.
Durch den Brasel mit dem Wetter vergaß ich andauernd, wie die Insel hieß, auf der wir uns befanden. Wahrscheinlich irgendwie verdrängt. Zuerst vermied ich Sätze, in denen Borkum vorkommt. Ging aber nicht immer, also musste eine Eselsbrücke her. Ich gewöhnte mir an, an den Borkenkäfer zu denken, und kam dabei zwangsläufig auf Borkum. Allerdings fragte ich mich jedes Mal, warum ich auf den Borkenkäfer kam, da er absolut nichts mit der Insel zu tun hat, zumal ich vor lauter Unwetter und Regenjacken-Geschäften kaum einen Baum zu sehen bekam. Ich fing also einen Satz an, z.B.: „Schon merkwürdig, ich hätte mir – eh … die Insel … eh … ganz anders vorgestellt.“ Ich druckste herum wie unter Demenz und versuchte, mich an meine Eselsbrücke zu erinnern, in dem Bewusstsein, dass sie rein gar nichts mit der Insel zu tun hat und wie durch eine wundervolle Fügung kam ich dann auf den Borkenkäfer und damit endlich auf Borkum und konnte den Satz beenden, in dem ich eigentlich nur sagen wollte, dass ich mir Borkum ganz anders vorgestellt hatte. Den Sommer eigentlich auch, und Sommerurlaub sowieso, aber das steckte ja alles in dem kleinen Satz schon drin.
An diesem Tag war der Wind so stark, dass die Möwen sogar rückwärts flogen, und es wunderte uns noch nicht einmal. Wir stöhnten bloß: „Was für ein scheiß Wetter“, aber Franziska tröstete uns: „Solange es nicht schneit.“ In der Ferienwohnung baten wir den Vermieter, die Heizung anzustellen. Er guckte uns entsetzt an: „Wir haben Mitte August“. Wir guckten genauso entsetzt zurück: „Was Sie nicht sagen!“ Er erbarmte sich. Abends schleppten wir uns von einem überdachten Lokal mit Heizofen zum nächsten. Wir froren und probierten alles, was warm macht. Eine Spezialität der Insel – Moment … Borkenkäfer … Borkum, also eine Spezialität von Borkum ist alles, was mit Sanddorn zu tun hat. Folglich probieren wir Sanddorn als Likör, als Schnaps, als Geist, Grog und Wein, in Rum, in Ginseng und allem, was man so zum Einlegen hernehmen kann, von edelbitter bis süß. Es wärmte tatsächlich und kurbelte Kreativität und Lachen an. Mir kam die Idee zu einer neuen, spektakulären Jever-Werbung: „Keine Sonne, kein Sommer, keine trockenen Klamotten. Keine Thermo-Unterwäsche, keine Regenjacke, keine Heizung. Mit eisigen Fingern das Bier ergreifen. Wie das Wetter, so das Jever.“
Die Kälte hatte uns fest im Griff. Hoffnungslos ausgeliefert bangten wir um unsere letzte trockene Socke. Zurück in der Wohnung wollte Andrea meine Lieblingsschuhe in den Backofen schieben, aber ich weigerte mich. Wir stellten das Radio an und Howie trällerte: „Deine Spuren im Sand“. Wie gerne hätten wir den Strand gesehen. Wie gerne hätten wir unsere Spuren im Sand gesehen. Und wie gerne hätten wir gute Musik gehört, aber es gab nur einen Sender, wahrscheinlich wegen dem Unwetter. Wir trösteten uns mit dem Inhalt kleiner Fläschchen, z.B. Friesen-Diesel, Sturm mit Wind, Seegang, Fischermelodie, Möwen Bitter … Möwen Schiss … Möwen Dreck und Möwen Kraut, Frische Brise, Wattenläufer, Friesengeist, Kutter-Schluck und Kielwasser.
Am dritten Tag schleppten wir uns zitternd und schlotternd zum Strand. Er lag wie ausgestorben vor uns und bot einen melancholischen Anblick. Strandkörbe als freie Hüllen, die ihre Bedeutung geradezu selbst verhöhnten. Umfunktioniert zu Wetterschutzhütten. Wir erfanden prompt eine Marktlücke, innovative Strandkörbe in Zeiten des angeblichen Klimawandels, den wir mittlerweile herbeisehnen: Der neue, optimale Standkorb KORBI 2000 NSL für den Sommerurlaub in Deutschland, mit beheiztem Sitzpolster und eingebauten UVA-Röhren, zur Bräunung und Erwärmung der unterkühlten Touristen, die sich bisher nur noch in Decken gehüllt zeigten.
Abends saßen wir wieder verfroren unterm Heizstrahler. Alles erinnerter plötzlich eher an Weihnachtmarkt als an Sommerurlaub. Heizstrahler und Backfisch, das ist normal im Dezember, aber nicht im August. Uns fehlten lediglich Taschenwärmer, Glühwein und Feuerwerk. Wir tranken literweise Grog und verfielen in verrücktes Sinnieren: „Wo ist das Licht, das uns wärmt? Wo nur finden wir Zuflucht vor den eisigen Klauen der Naturgewalten? Pinguine erobern den Strand. Einheimische haben uns gesteckt, dass die Eisbären schon erwartet werden und raunen uns verschwörerisch zu: „Schlechter kann’s nicht werden“. Hart ist der August dieser Tage. Wir wissen nicht mehr, was der nächste Tag bringt, ob wir uns auf ihn freuen dürfen oder ihn fürchten müssen. Kleenextücher umwickeln blau gefrorene Füße, die Mitleid erregend in Sandalen stecken. In den Kneipen wird bereits Inuit gesprochen. Die ersten Trockenfisch-Vorräte werden geplündert. Lebertran wird immer knapper. Wenn Inuit zur offiziellen Amtssprache ernannt wird, dann bleiben die Touristen gänzlich aus. Wattwürmer ragen leblos wie Stacheln aus dem Watt. Wenn das so weitergeht, brauchen die Herzmuscheln winzige kleine Eispickel, damit sie sich wieder einbuddeln können. Sonst droht ihnen der Kältetod. Im August. Sommer in Deutschland.“
Nach vier Tagen war ich die einzige, die die Insel ohne Regenjacke betreten und verlassen hat. Wenn ich mich an frühere Urlaube in Griechenland erinnere, habe ich das Rauschen des Meeres und das Zirpen der Grillen im Ohr. Abgesehen von der brütenden Hitze. Wenn ich an Borkum denke, höre ich das Prasseln des Regens und das Pfeifen des Windes. Abgesehen von der klirrenden Kälte. Und irgendwas war da mit Borkenkäfern. Mein Tipp an alle, die nächstes Jahr die so genannten „Sommermonate“ in Deutschland verbringen wollen: Vergessen Sie die Strandsachen, packen Sie Winterjacken, Heizdecken und Schneebrillen ein. Besser ist das.

Jess Geiger, August 2011, Borkum
Das "Jackenbaby" von Jess Geiger
Autor:

Jess Geiger aus Dinslaken

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