“Die werden und müssen selber wissen, wo ihr Stall ist“
Anne Priors Buch über Dinslakens Tag der Schande: „Wo die Juden geblieben sind, (...) ist nicht bekannt“:
„Gegen 9.30 Uhr drangen etwa 50 uniformierte und nichtuniformierte Jugendliche und Männer in das jüdische Waisenhaus ein. Der kommissarisch eingesetzte Waisenhausleiter Sofoni Herz verließ überstürzt mit den Kindern das Haus an der Neustraße und begab sich in Richtung Polizei, deren Diensträume sich – wie die der NSDAP-Kreisleitung auch – in den Räumen des städtischen Rathauses befanden.
Ein diensthabender Schutzpolizist, Dietrich Freikamp, lief Herz und den Kindern entgegen und schrie dabei: „Die Juden bekommen von uns keinen Schutz. Machen Sie, dass sie mit Ihren Kindern weiterkommen!“. Freikamp trieb Herz und die Kinder in Richtung Rückseite des Waisenhauses, zum heutigen Rutenwall. Dort standen die Kinder für Stunden auf der nassen Wiese des Waisenhauses, nur notdürftig angezogen, zum Teil ohne wärmende Kleidung.“ (Auszug aus dem Kapitel „Die lokalen Ereignisse am 10. November“ aus Anne Priors Buch über „Novemberpogrom 1938 in Dinslaken und die Deportation Dinslakener Juden 1941-1944“, so der Untertitel.).
Als andere Polizisten die Kinder nach Stunden zur ebenfalls zerstörten, aber nicht angezündeten jüdischen Schule begleiten wollten, hielt der Schutzpolizist Freikamp seine Kollegen mit den Worten zurück: „Die werden und müssen selber wissen , wo ihr Stall ist“.
Dies ist nur eines von vielen aktenkundig gewordenen Ereignissen in Dinslaken, die den Weg zur systematischen Judenvernichtung in Deutschland während der Nazizeit für die Nachwelt wieder lebendig machen. Es ist die zweite Buchveröffentlichung der Dinslakener Autorin Anne Prior. (In einem Beitrag zu einem Band über die „Entnazifizierung im (damaligen) Landkreis Dinslaken“ schrieb sie 2008 über den örtlichen „Nationalsozialimus und seine Nachwirkungen.“).
In bisherigen Publikationen endet die Geschichte der Dinslakener Juden mit der lapidaren Stellungnahme, der zum Titel ihres neuen Werkes wurde: „Wo die Juden geblieben sind, (...) ist nicht bekannt.“. Anne Prior aber hat nach Akten gesucht, die die Schicksale der Dinslakener Juden dokumentieren und sie hat viele gefunden. „Moralisieren hilft nicht, es sind die Fakten, die zählen.“, erläutert Anne Prior ihre Arbeitsweise.
Die Frage, die ungestellt im Raum steht, weil sie so fürchterlich ist: Was waren das für Menschen, die sich auch an den Schwächsten vergriffen haben, elternlosen Kindern das Zuhause angezündet haben und sie wie Vieh letztendlich in die Vernichtungslager trieben? Es gab viele grauenvolle Übergriffe am 9. und 10. November in Deutschland 1938, ausgerechnet das Dinslakener Pogrom gehört wegen seiner unermesslichen und anhaltenden Herzlosigkeit der Täter heute zu den berüchtigsten und erschütterndsten überhaupt. In den Akten stehen ihre Namen, es waren auch 15, 16-jähriger Berufsschüler dabei, die von ihrem Rektor extra schulfrei dafür bekommen hatten.
Einige werden heute noch hier in Dinslaken leben. Die Waisenkinder, die jüngsten gerade mal vier Jahre, die ältesten 14 Jahre, mussten mit ansehen, wie ihr Waisenhaus erst verwüstet und dann niedergebrannt wurde. In einem „Judenzug“ wurden die älteren Kinder gezwungen, die Jüngeren auf einem Leiterwagen durch ein extra langes Spalier von schaulustigen Dinslakenern zu ziehen, die sich darüber auch noch lustig machten.
Bürgermeister Groß dankte im Namen der Stadt
Dinslakens stellvertretender Bürgermeister Thomas Groß dankte Anne Prior bei der Präsentation ihres Buches für ihren jahrelangen Einsatz. Er würdigte ihre Arbeit auch im Hinblick auf die heutige junge Generation, die durch das Buch jetzt auch ganz konkrete Antworten auf die Frage „Wie war das eigentlich bei uns in Dinslaken?“ erhalten kann.
Thomas Groß, dessen Großvater Nikolaus Groß in der Nazizeit als Widerstandskämpfer gegen das Hitler-Regime gehenkt wurde, weiß aus den Erzählungen seiner Eltern, wie entsetzlich diese Zeit für die Opfer war. Es ist bewundernswert und gut für unsere ganze Stadt, dass jemand den Mut und die Zeit fand, sich diesem oft verdrängten Thema der Stadtgeschichte zu stellen.
Aufklären gegen rechtes Gedankengut
Anne Prior wünscht sich, dass ihr Buch auch den Weg in die Schulen findet und mithilft, das Bewusstsein für Unrecht und ewig gestriges Gedankengut zu schärfen. „Damit so etwas nie wieder möglich wird in unserer Stadt“. Denn das bis heute Erschreckende für Anne Prior war die hohe Anzahl von Jugendlichen, die an den Zerstörungen während der Novemberpogrome 1938 in der Innenstadt aktiv teilnahm. Die Autorin und gelernte Buchhändlerin dankte auch ihren Kollegen und ihrem Chef Thomas Straubinger für die Unterstützung. „Bücher sind ja keine Ware wie jede andere, Frau Priors Arbeit hier bei Thalia hat nie darunter gelitten“, so Straubinger zum Niederrhein Anzeiger. Und es war ihm „eine Ehre, die Buchpräsentation im Thalia–Lesecafé auszurichten.“
Anne Priors Buch „Wo die Juden geblieben sind, (...) ist nicht bekannt“ kostet 14,95 Euro und ist im Essener Klartext Verlag erschienen. Der Klartext-Verlag gehört wie der Niederrhein Anzeiger und die Dinslakener Tageszeitung NRZ zur Mediengruppe WAZ.Es ist im Buchhandel erhältlich. (Erschienen im Niederrhein Anzeiger KW 41/ Text und Fotos: Caro Dai)
Autor:Caro Dai aus Essen-Werden |
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