Defizite

Einkaufen bewegte sich für sie gerade noch im Rahmen. Rote Etiketten auf den Produkten bedeuteten einen Sonderpreis, auffällig große Pappschilder mit einem davor aufgebauten Sortiment meist eine Rabattaktion.

Heute brauchte sie Kartoffeln, Senf, Wurst, Marmelade und Brot. Die Kartoffeln waren kein großes Problem. Es war ihr egal ob neue oder alte Ernte, weich oder fest kochend. Hauptsache Kartoffeln.
Auch der Senf war schnell gefunden. Sie kaufte immer die gleiche Marke. Nach mehreren Fehleinkäufen mit zu scharfem, süßem und Kräutersenf hatte sie ihre Geschmacksrichtung gefunden.

Die Wursttheke mied sie seit langem. Die Frage der Verkäuferin ob sie etwas aus dem Angebot kaufen möchte mit dem Hinweis auf die "heutigen Sonderangebote des Tages", trieb ihr den Schweiß auf die Stirn. Deshalb hielt sie sich an abgepackte Ware, die sie in Ruhe betrachten und auswählen konnte. Noch schnell ein in Folie verpacktes Brot in den Wagen gelegt und dann an der Kasse anstellen.
Sie hatte stets ein ungutes Gefühl dabei. Was, wenn sie die Preise nicht richtig überschlagen hatte, das Geld nicht reichte und die Kassiererin dann nach ihrer bargeldlosen Karte fragte? Diese Anspannung brachte sie noch einmal um.

Warum das alles, warum, warum, warum? Diese Gedanken drehten sich in einer Endlosschleife in ihrem Kopf. Warum mache ich mir selber das Leben so schwer? Das Einkaufen ist doch nur ein winzig kleiner Teil meiner Probleme. Erinnerungen an schreckliche und demütigende Erlebnisse mit Behörden, auf Zugfahrten und in ihrem privaten Umfeld liefen vor ihrem geistigen Auge ab.

Als sie an diesem Punkt angelangt war, fühlte sie Tränen in ihren Augen. Wie einsam sie war. Keinen Mann, keine Kinder, so gut wie keine Freunde und Bekannte. Alle hielt sie auf Distanz und ließ niemanden an sich heran.

Da war sie wieder diese Frage - WARUM???

"Ich schäme mich so sehr" dachte sie. Die junge Frau neben ihr sah sie fragend an. Da wurde ihr klar, dass sie den Satz laut ausgesprochen hatte.

"Warum schämst Du Dich?"
Das kleine Mädchen an der Hand der Frau schaute sie bei dieser Frage mit großen Augen an.

"Weil ………. ich nicht lesen und schreiben kann."
Jetzt hatte sie "es" gesagt. Wo blieb der seit Jahrzehnten befürchtete Hieb der ihr das Genick brechen konnte? Stattdessen fühlte sie einen Hauch von Hochachtung vor sich selber.

Die Kleine lachte und sagte: "Das ist doch nicht schlimm, lesen und schreiben kann ich auch nicht. Das muss ich noch lernen."

Etwas in ihr bahnte sich den Weg nach oben. Es war ein beglückendes und befreiendes Lachen. Sie konnte es nicht glauben, dass sie hier stand und lachte. Ein kleines Mädchen hatte in wenigen Worten alles auf den Punkt gebracht.

Es ist nicht schlimm. Sie konnte es lernen. Auch im Herbst ihres Lebens.

© pefito

Autor:

Petra Tollkoetter aus Dinslaken

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