Defizite
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- hochgeladen von Petra Tollkoetter
Einkaufen bewegte sich für sie gerade noch im Rahmen. Rote Etiketten auf den Produkten bedeuteten einen Sonderpreis, auffällig große Pappschilder mit einem davor aufgebauten Sortiment meist eine Rabattaktion.
Heute brauchte sie Kartoffeln, Senf, Wurst, Marmelade und Brot. Die Kartoffeln waren kein großes Problem. Es war ihr egal ob neue oder alte Ernte, weich oder fest kochend. Hauptsache Kartoffeln.
Auch der Senf war schnell gefunden. Sie kaufte immer die gleiche Marke. Nach mehreren Fehleinkäufen mit zu scharfem, süßem und Kräutersenf hatte sie ihre Geschmacksrichtung gefunden.
Die Wursttheke mied sie seit langem. Die Frage der Verkäuferin ob sie etwas aus dem Angebot kaufen möchte mit dem Hinweis auf die "heutigen Sonderangebote des Tages", trieb ihr den Schweiß auf die Stirn. Deshalb hielt sie sich an abgepackte Ware, die sie in Ruhe betrachten und auswählen konnte. Noch schnell ein in Folie verpacktes Brot in den Wagen gelegt und dann an der Kasse anstellen.
Sie hatte stets ein ungutes Gefühl dabei. Was, wenn sie die Preise nicht richtig überschlagen hatte, das Geld nicht reichte und die Kassiererin dann nach ihrer bargeldlosen Karte fragte? Diese Anspannung brachte sie noch einmal um.
Warum das alles, warum, warum, warum? Diese Gedanken drehten sich in einer Endlosschleife in ihrem Kopf. Warum mache ich mir selber das Leben so schwer? Das Einkaufen ist doch nur ein winzig kleiner Teil meiner Probleme. Erinnerungen an schreckliche und demütigende Erlebnisse mit Behörden, auf Zugfahrten und in ihrem privaten Umfeld liefen vor ihrem geistigen Auge ab.
Als sie an diesem Punkt angelangt war, fühlte sie Tränen in ihren Augen. Wie einsam sie war. Keinen Mann, keine Kinder, so gut wie keine Freunde und Bekannte. Alle hielt sie auf Distanz und ließ niemanden an sich heran.
Da war sie wieder diese Frage - WARUM???
"Ich schäme mich so sehr" dachte sie. Die junge Frau neben ihr sah sie fragend an. Da wurde ihr klar, dass sie den Satz laut ausgesprochen hatte.
"Warum schämst Du Dich?"
Das kleine Mädchen an der Hand der Frau schaute sie bei dieser Frage mit großen Augen an.
"Weil ………. ich nicht lesen und schreiben kann."
Jetzt hatte sie "es" gesagt. Wo blieb der seit Jahrzehnten befürchtete Hieb der ihr das Genick brechen konnte? Stattdessen fühlte sie einen Hauch von Hochachtung vor sich selber.
Die Kleine lachte und sagte: "Das ist doch nicht schlimm, lesen und schreiben kann ich auch nicht. Das muss ich noch lernen."
Etwas in ihr bahnte sich den Weg nach oben. Es war ein beglückendes und befreiendes Lachen. Sie konnte es nicht glauben, dass sie hier stand und lachte. Ein kleines Mädchen hatte in wenigen Worten alles auf den Punkt gebracht.
Es ist nicht schlimm. Sie konnte es lernen. Auch im Herbst ihres Lebens.
© pefito
Autor:Petra Tollkoetter aus Dinslaken |
7 Kommentare
Unvorstellbar - und doch so alltäglich. 7,5 Mio. Menschen in Deutschland können nicht oder nur unzulänglich lesen und schreiben. Du hast dieses Thema toll umgesetzt!
Das mag jetzt ein wenig flapsig klingen, wenn ich mich hier als Lesebrillen-
Vergesser oute und somit häufig unter temporären Analphabetismus leide .Da wird der Einkauf im Supermarkt nahezu unmöglich, weil Preisschilder, Mindesthaltbarkeitsdatum Gewichts- und Zutatenangaben für mich nicht lesbar sind. Anstatt jemand um „Sehhilfe“ zu bitten, siegen Stolz und Scham, um nicht verdächtigt zu werden, ich sei grundsätzlich leseunkundig.
Radfahren verlernt man nicht – leider verhält es sich jedoch nicht mit Schreiben und Lesen. Hierzu Wikipedia: Von sekundärem Analphabetismus spricht man seit den 1970er Jahren, wenn die Fähigkeiten zum schriftlichen Umgang mit Sprache wieder verlernt wurden. Eine der Hauptursachen hierfür ist die zunehmende Ablösung der Schrift- und Printmedien durch das Telefon und die Bildschirmmedien.
Petra, ein sehr guter Beitrag zu einem wichtigen Thema. Und auch das ist nicht lustig gemeint: Man sollte ihn den Betroffenen vorlesen, um ihnen Mut zu machen, sich aus dem „Gefängnis Analphabetismus“ zu befreien
Ein großes Danke für Eure Kommentare
und Claudia auch für die Tel. Nummer.
Analphabetismus ist leider selbst in unserer Bildungsgesellschaft mit Schulpflicht ein - hausgemachtes? - Problem.
Mit wie viel Einfallsreichtum, Durchhaltevermögen, Energie und Gedächtnisleistungen diese Menschen ihren Alltag bewältigen. Diese Leistung ist bewundernswert.
Nicht Lesen und Schreiben zu können, stelle ich mir furchtbar vor.
Dazu kommt, dass bei fast allen anderen Beeinträchtigungen sich die Betroffenen des Verständnisses ihrer Mitmenschen sicher sein können.
Bei Analphabetismus werden oft andere Maßstäbe angelegt.
Nicht umsonst ist ein sich Bekennen zu diesem Problem für die Betroffenen so schwierig.
Dabei gibt es viele Gründe für dieses Defizit, und wer sucht sich dieses anstrengende Leben schon freiwillig aus?
In einem Bericht im Fernsehen sprach eine ältere Frau von Glückseligkeit nachdem sie ihr erstes Buch gelesen hatte.
Es ist nie zu spät.
Lesen - und schreiben - macht glücklich und frei.
Schade, dass es nicht allen Menschen auf dieser Welt zugänglich ist.