1. Dinslakener Literatur-Hotel-Preis: Silke Kortschakowski
Fundsache
„Hallo! Warten Sie, Sie haben was verloren!“ Josie bückt sich nach dem schwarzen Lederetui, das der Mann mit der schwarzen Mütze verloren hat und läuft ihm hinterher. Dieser dreht sich um und blickt Josie mit Entsetzen an. Er zögert einen Augenblick, macht mit der rechten Hand eine Geste, die die junge Frau nicht wirklich deuten kann. Anschließend blickt er nervös nach rechts auf den Parkplatz, dreht sich um und eilt mit schnellen Schritten davon. Josie rennt ihm nach. „Bleiben Sie doch stehen, Sie haben ein schwarzes Mäppchen verloren!“, ruft sie ihm erneut zu. Der Unbekannte wird jedoch immer schneller und verschwindet schließlich im Getümmel auf der Einkaufsstraße. Etwas aus der Puste gibt Josie schließlich auf. „Seltsam“, denkt sie sich und öffnet, in der Hoffnung eventuell eine Adresse zu finden, den Reißverschluss des Etuis. Vorsichtig lugt sie hinein und zum Vorschein kommen ein Dreikantschlüssel und ein Zettel mit einer Notiz:
Hünxe – altes Munitionsdepot – Bunker 3 – übermorgen 18:00 Uhr.
Mit großen Augen und einem mulmigen Gefühl zieht Josie den Reißverschluss wieder zu. Ihr Gehirn arbeitet auf Hochtouren. ‚Ich bringe es am besten zur Polizei‘, entschließt sie sich und geht zurück zum Parkplatz. Zwei Männer mit ernster Miene steuern direkt auf Josie zu und bremsen ihren gerade gefassten Entschluss. Während der eine sich vor ihr aufbaut, stellt der andere sich hinter sie. „Entschuldigung, aber ich glaube Sie haben etwas das uns gehört.“ Der breitschultrige Mann deutet mit dem Kopf auf ihre Hand. „Wie bitte?“, stottert Josie ängstlich und hält das eben gefundene Mäppchen fest umklammert. Der zweite Kerl, seitlich hinter ihr, greift in seine Jackentasche. Josie hält mit weit aufgerissenen Augen den Atem an. Während der Mann seine Pranke langsam wieder aus der Tasche zieht, schließt die verängstigte Frau kurz die Augen. Sie kann schon förmlich den Lauf einer Pistole an ihrem Körper spüren, als ihr überraschend eine Polizeimarke vorgehalten wird. Mit einem tiefen Seufzer fällt die Anspannung von ihr ab. „Gott sei Dank, Sie sind von der Polizei. Zu Ihnen wollte ich gerade!“ Noch immer hält sie das Mäppchen fest. „Dürfte ich dann bitten“, sagt der vor ihr stehende Beamte und hält ihr die offene Hand entgegen. „Ach so, ja - hier bitte.“ Josie überreicht ihm die Fundsache. Anschließend nehmen die beiden Polizisten noch ihre Personalien auf und verabschieden sich. Mit zitternden Knien sucht Josie das nächste Cafe auf und bestellt sich auf den Schrecken einen Espresso und einen Cognac.
Am nächsten Tag denkt Josie ständig über dieses Ereignis nach. Die beiden Polizisten haben ihr gesagt, dass sie mit Niemandem darüber sprechen darf und ihr eindringlich ins Gewissen geredet, sich unbedingt von dem ehemaligen Munitionsdepot fern zu halten.
Es ist Freitagmorgen. Josie hat sich für heute frei genommen, zumal es ihr 30. Geburtstag ist. Sie wird zwar erst morgen feiern, hat aber so die Zeit alles in Ruhe vorzubereiten. Immer wieder drängt sich die Warnung der Beamten in ihre Gedanken. „…bleiben Sie zu Hause, gehen Sie nicht dorthin. Wir können keine Passanten gebrauchen, die uns in die Quere kommen.“ Je länger sie darüber nachdenkt, umso mehr empfindet Josie diese Warnung als Einladung. Also macht sie sich am späten Nachmittag auf den Weg.
Es ist siebzehnuhrdreißig, als Josie im Gebüsch versteckt den Bunker 3 vor Augen hat. Eine viertel Stunde später tauchen die beiden Polizisten von gestern auf. Sie sehen sich nach allen Seiten um, öffnen, vermutlich mit dem Dreikantschlüssel, das große Tor und verschwinden dahinter. Josies Anspannung wächst und sie erschrickt zu Tode, als sich plötzlich eine Hand auf ihre Schulter legt. Sie dreht sich um und erkennt den Mann, der das Etui verloren hatte. Er hat einen Finger an die Lippen gelegt und deutet der jungen Frau an still zu sein. „Ich wusste, dass Sie hier auftauchen“, flüstert er ihr zu. Schuldbewusst blickt Josie zu Boden. Sie ist stumm vor Schreck. Nun liegt sie mit dem Unbekannten im Dickicht. Gemeinsam beobachten sie den Bunker. Als nach einer halben Stunde nichts passiert, erhebt sich der Fremde. „Ich geh mal rüber und schau nach, ob mit meinen Kollegen alles in Ordnung ist. Sie bleiben hier und rühren sich nicht von der Stelle, verstanden?“ Josie nickt. ‚Er ist also auch von der Polizei‘, geht ihr ein Licht auf und sie ist sich ziemlich sicher, dass dieser Mann ein verdeckter Ermittler sein muss. Josie bleibt in ihrem Versteck.
Eine ganze Weile ist bereits vergangen, aber auch er kommt nicht mehr zurück. Soll sie einfach verschwinden und so tun als wäre sie nie hier gewesen? Josie ist hin und her gerissen - abhauen, Hilfe holen oder doch selber nachsehen? Ihre Neugier gewinnt schließlich und sie schleicht zum Bunker. Das Herz klopft ihr bis zum Hals. Vorsichtig schiebt sie das große Tor ein Stück zur Seite und lugt hinein. Es ist stockfinster. Ein leises Wimmern ist zu hören. ‚Einer ist verletzt‘, schießt es ihr durch den Kopf. Sie schlüpft durch den Spalt und macht ein paar Schritte in Richtung des Jammerns. Plötzlich geht ein Spot an und ein grelles Licht blendet sie. Wie angewurzelt bleibt die Frau stehen. Irgendwer packt sie von hinten und Josie stößt einen markdurchdringenden Schrei aus. Der Griff ist so stark, dass es keinen Sinn macht sich zu wehren. Jemand kommt aus dem grellen Licht auf sie zu, doch es ist nur ein dunkler Umriss zu erkennen. „Selber schuld“, hört sie hinter sich eine Stimme, die ihr bekannt vorkommt, dann werden ihr die Augen verbunden. Sie hört ein kratzendes Geräusch. Irgendetwas wird über den Boden geschoben. Hände legen sich auf ihre Schultern und drücken sie herunter. Sie landet unsanft auf einem Stuhl. Stille – kein Mucks ist zu hören. Hinter der Augenbinde wird es noch dunkler. Das grelle Licht ist aus. „Das war’s“, durchzuckt es Josie, „mein Geburtstag ist der Tag an dem ich sterben werde.“ Sie lässt den Kopf nach vorne fallen und wartet auf ihr Ende. Plötzlich dringt eine Melodie zu ihr durch. Es hört sich an, als würde ein Chor eine Melodie summen. „Bin ich schon Tod?“, flüstert Josie ins Leere. Sie erhält keine Antwort und aus dem Summen wird Gesang.
„…, happy birthday to you, happy birthday liebe Josie, happy birthday to you!” Josie reißt die Augenbinde herunter. „Ihr, ihr…“, beginnt sie wütend, verstummt jedoch, als sie ihre Freunde erblickt. Sie haben sich um eine riesige Geburtstagstorte gruppiert und strahlen ihre Freundin an. Josies Groll verpufft sofort und es wird die schönste Geburtstagsparty, die sie je erlebt hat.
Autor:Günter Hucks aus Dinslaken |
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