Ein Tag als Pflegerin im Seniorenzentrum:
„Wer Altenpflege nur als Job sieht, geht unter.“
Von Katrin Mormann
Im AWO-Seniorenzentrum „Auf dem Kolven“ bleibt Zeit für liebe Worte zwischendurch.
Frau Schulte hat heute einen guten Tag. Die 96-Jährige lacht und plaudert. Ihre grauen Haare sind adrett frisiert. An der Wand ihres Zimmers hängen ein schwarz-weißes Hochzeitsfoto und ein Monatskalender, auf dem an jedem zweiten Tag eingetragen ist, dass ihre Tochter zu Besuch kommt. Es ist halb neun morgens. Pflegefachkraft Jessica kniet vor der alten Frau auf dem Boden und bandagiert ihre Unterschenkel, in denen sich sonst das Wasser sammeln würde. Jeden Morgen dieselbe Prozedur.
Danach steht die alte Frau langsam auf und lässt sich von Jessica ins Badezimmer führen. Waschen, eincremen, anziehen. Die beiden Frauen scherzen über die selbst gestrickten Socken. Noch ein bisschen Schminke auftragen. Frau Schulte sinniert über ihre Augenbrauen, die kaum noch sichtbar seien. „Alle grau geworden“. Jessica tröstet, muntert auf. Sie hat Zeit.
Bewohner bestimmen
„Hier muss ich nicht dauernd auf die Uhr schauen“, sagt Jessica. Seit drei Jahren arbeitet sie bei der AWO im Seniorenzentrum „Auf dem Kolven“ in Oer-Erkenschwick. Vorher war sie in der ambulanten Pflege tätig. „Jetzt bestimmen die Bewohner, wie der Tag abläuft.“ Wenn sie ihre Frühschicht um sieben Uhr beginnt, macht sie einen ersten Rundgang durch die Flure des Wohnbereiches II. 31 Menschen leben hier. Die sogenannten „Läufer“ machen sich oft selber zurecht und brauchen höchstens mal Hilfe beim Duschen.
Andere, wie Frau Schmidt, die stark dement ist, müssen sogar daran erinnert werden zu frühstücken. Und Martha, zu der Jessica eine besonders enge Bindung hat, hat sogar die Sprache vergessen. Sie ist bettlägerig und hat Demenz im Endstadium. Jessica reicht ihr geduldig einen Joghurt an, streichelt ihr übers Haar. Martha genießt ihre Anwesenheit und die lieben Worte sichtlich. Die beiden verstehen sich – auch ohne Sprache. „Ich hoffe, dass ich nicht hier bin, wenn sie geht“, sagt Jessica. Sie mag nicht daran denken, dass Martha stirbt.
Pflege kann nicht jeder
Der Tod – das sei ein schwieriges Thema für sein Team, weiß Wolfgang Gumprich, der das Seniorenzentrum leitet. „Jeden Tag ist man hier mit der Vergänglichkeit, Alter und Krankheit konfrontiert“, sagt er. Das belaste die Fachkräfte. Der Umgang mit diesen gesellschaftlichen Tabu-Themen bringe der Beruf aber mit sich. „Pflege kann deshalb eben nicht jeder“, sagt er und erinnert sich, dass vor etwa 20 Jahren versucht wurde, Bergleute in Crash-Kursen zu Altenpflegern umzuschulen. 50 nahmen teil, nur wenige hielten durch und beendeten die Ausbildung. „Wer Altenpflege nur als Job sieht, geht unter.“
Jessica nickt. Sie arbeitet seit 20 Jahren in der Pflege, wollte eigentlich Fotografin werden und ist durch Zufall in der Branche gelandet und geblieben – aus Überzeugung. „Ich mag es, so eng mit Menschen zu arbeiten“, sagt sie. Zusammengehörigkeit, menschliches Miteinander, Nähe – all das muss man mögen, wenn man in der Altenpflege arbeitet. „In kaum einem Job ist man näher dran am Menschen – und zwar in all seinen Facetten“, bestätigt Gumprich. Konflikte zwischen den Bewohnern wahrzunehmen und zu schlichten, gehöre ebenso zum Alltag wie der Umgang mit den Angehörigen. Und schwankende Stimmungen und strenge Gerüche zu ertragen ebenfalls.
Gedichte
Jessica sieht ihre Profession auch darin, „in tausend Rollen zu schlüpfen“: Sie kann streng, liebevoll, redselig, still oder distanziert sein. Wenn nötig, sagt sie beim Waschen sogar Gedichte auf – je nachdem, was die Bewohner gerade brauchen, ob sie entspannt oder aufgeregt sind. Letzteres komme bei demenziell veränderten Menschen häufig vor. „Die haben oft unglaublich große Angst, etwas falsch zu machen“, sagt Jessica. Dann müsse sie ganz besonders vorsichtig mit ihnen umgehen. Empathie und Individualität lauten die Schlüsselworte in der modernen Altenpflege.
Zeitungsrunde
Heute ist alles ruhig im Wohnbereich II. Um zehn Uhr lädt Betreuungsassistentin Ines wie jeden Vormittag zur Zeitungsrunde ein. Die alten Leute sammeln sich am Tisch und sprechen über Artikel und Schlagzeilen der Tagespresse. Zwei Frauen sind im Erdgeschoss und lassen sich bei der Friseurin die Haare machen. Andere, die besondere Ruhe und feste Strukturen brauchen, sind bei Petra im Untergeschoss in der Tagespflege.
In einem großen Raum, der mit Ledersofas und Schrankwand wie ein Wohnzimmer eingerichtet ist, hören sie Musik, singen und summen oder wiegen sich im Takt. Die Frauen haben gepflegte, bunt lackierte Fingernägel. „Wir machen jeden Donnerstag Maniküre und manchmal lassen wir uns auch frisieren“, sagt Petra. Was Frauen eben gerne machen, auch wenn sie zwischen 85 und 95 Jahre alt und schwer dement sind. „Wir leben hier wie eine kleine Familie“, sagt Petra. Sie weiß über die alten Menschen Bescheid, weiß genau, wer Aufmerksamkeit braucht, wer welche Beschwerden hat und wer zu wenig isst.
Dokumentation
Damit das so bleibt, verschwindet Jessica zwischendurch immer wieder ins Dienstzimmer des Wohnbereiches. Dort trägt sie die wichtigsten Eindrücke über jeden Bewohner ein, den sie gerade versorgt hat: Zustand, Beschwerden, Appetit, Stimmung und so weiter. Über jeden wird eine dicke Dokumentation geführt, „in der man den Menschen erkennt“, erklärt Gumprich.
Im Büro des Wohnbereiches laufen zudem die Fäden zusammen. Dort trifft sich das Team und tauscht sich aus. Mindestens zu dritt sind sie „auf Schicht“. Wohnbereichsleiter Rafael und Jessica fachsimpeln über Wundversorgung und stimmen die Dienstpläne ab. Hausärzte werden angerufen, Angehörige verständigt: Eine alte Frau muss ins Krankenhaus. Alle packen mit an: Michael holt den Koffer, Jessica bereitet den Rollstuhl vor, beide helfen ihr beim Anziehen – jeder Handgriff sitzt. Die Zeitungsgruppe um Betreuungsassistentin Ines sagt wie im Chor „Tschüss und gute Besserung“.
Freundliche Worte
Zwischendurch reicht es auf der Station immer für ein freundliches Wort. Nicht nur zwischen Pflegern und Bewohnern, sondern auch innerhalb des Teams. „In der professionellen Pflege ist der Zusammenhalt enorm wichtig, damit sich die Fachkräfte gegenseitig stützen – emotional und psychisch“, sagt Gumprich, der seit 25 Jahren bei der AWO arbeitet und schon mehrere Häuser geleitet hat. Was die Zukunft bringt? „Wir entwickeln Strukturen, die Familie ersetzt und Pflege sehr individuell und in kleinen Gruppen stattfinden lässt“, sagt er auch mit Blick auf gesetzliche Änderungen wie etwa das Wohn- und Teilhabegesetz, das eine Einzelzimmerquote von mindestens 80 Prozent pro Haus festgelegt hat.
Die Pflegekräfte spüren diesen Wandel deutlich. „Manche Bewohner haben nur noch wenig Kontakt zu Angehörigen“, sagt Jessica. Wer sich für ihren Beruf entscheide, der müsse sich vorher darüber im Klaren sein, dass er enge menschliche Beziehungen knüpft und mit den alten Menschen zusammenlebt. Für sie kein Problem. Im Gegenteil. Es macht sie stolz, dass eine Bewohnerin, die im Krankenhaus war, sie vermisst hat. Zurück im Wohnbereich II hat sie gesagt: Endlich bin ich wieder zuhause. „Ein schöneres Lob kann ich mir nicht vorstellen“, sagt Jessica.
Info:
Zum 100. Jubiläum hat der AWO Bezirksverband Westliches Westfalen die Geschichte(n) der AWO gesammelt. Projektleiterin Silke Pfeifer hat - gemeinsam mit vielen AWO-Gliederungen - besondere Personen, Zeitzeugen, Anekdoten, Angebote und Projekte aus dem AWO-Kosmos recherchiert. Studierende der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen (Institut für Journalismus und Public Relations) haben sie umgesetzt. Unter www.awo-100-geschichten.de wurden die weit über 100 spannenden, kuriosen, interessanten und berührenden Beiträge veröffentlicht.
Gefördert wurde das Projekt von der GlücksSpirale.
Autor:Lokalkompass Empfehlungen aus Essen |
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