Anker gegen das Vergessen
Demenz ist die Krankheit des Vergessens. Die Erinnerung an früher macht den Betroffenen Spaß, schützt vor Depressionen und stärkt das Selbstvertrauen. Beim Lokaltermin auf der Radrennbahn in Bielefeld wurde das deutlich.
Zündung ein, anschieben, Gas geben und schon springt die feuerrote Derny an. Christian Dippel schwingt sich in den Sattel, beschleunigt das Motorrad und taucht ein in die erste Steilwandkurve der Radrennbahn Bielefeld. Begleitet vom kernigen Sound des Zweitaktmotors saust er durch das geschichtsträchtige Oval und die Gruppe der an Alzheimer oder einer anderen Form der Demenz erkrankten Senioren kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Drei oder vier Runden absolviert Dippel. Die Bielefelder Bahnradsport-Legende wurde als Schrittmacher bei Steherrennen 1984 in Barcelona Weltmeister. Unter Applaus lässt er sein Spezialmotorrad ausrollen. „Das kenne ich noch von früher“, sagt eine Bielefelderin im Rollstuhl, die in jungen Jahren die spektakulären Rennen – Motorrad- und Radrennfahrer kämpfen als Team – erlebt hat. Und ein Herr erinnert sich, zusammen mit seiner Frau einst im Goggomobil über das heute denkmalgeschützte Rund gefahren zu sein.
„Denkmal – erzähl mal!“, heißt ein Projekt, das vom Demenz-Servicezentrum Region Ostwestfalen-Lippe ins Leben gerufen wurde. Ziel ist es, Menschen, die an der Vergessenskrankheit leiden, mit historischen Orten zu konfrontieren. Dadurch werden Erinnerungen geweckt, die den Betroffenen ein Stück Orientierung in ihr Leben bringen sollen, das sonst droht, in totaler Vergessenheit zu versinken. Mit fatalen Auswirkungen für die Kranken, die Angehörigen und letztendlich die ganze Gesellschaft.
Beim Erinnern vor Ort hilft Andreas Kuhlmann, Gedächtnistrainer und Kenner der Bielefelder Geschichte. Während des Rundgangs durch die 1954 eröffnete Radrennbahn animiert er die alten Menschen behutsam, beispielsweise Namen von Personen, die mit der Bahn in Verbindung standen, zu nennen. „Wer kennt denn noch den berühmten Mann mit Vornamen Otto, der hier die Fußballspieler der Arminia Ende der 70er-Jahre trainierte?“ „Rehhagel“ , antworten spontan die an Demenz Erkrankten, die aus verschiedenen Pflegeeinrichtungen gekommen sind. Auch die legendären Basketballspiele der Harlem Globetrotters und die Dudelsack-Konzerte der britischen Rheinarmee sind fast allen Teilnehmern in Erinnerung. Nur an Friedrich Nowottny, dem späteren WDR-Intendanten, der als Stadionsprecher auf der Rennbahn fungierte, kann sich keiner der über 80-Jährigen so richtig erinnern.
„Erinnerung schafft Identität und Orientierung“, bringt Dirk Eickmeyer vom Demenz-Servicezentrum in Bielefeld das Konzept auf den Punkt. Und weiter erklärt der Diplompflegewirt: „Nur wenn der Betroffene weiß, wer er war, weiß er auch, wer er ist.“ Die Erinnerung ist wie ein Anker im Leben. Und der kann Ängsten, Verzweiflung und Depressionen entgegenwirken. Ja, das Fortschreiten der Erkrankung in einzelnen Fällen sogar verzögern. Erinnerung reaktiviert vertraute Handlungen wie beispielsweise Musizieren oder Backen. Erinnerung strukturiert den Alltag, sorgt für gute Laune und Lebensfreude und stärkt das Selbstvertrauen. Der Betroffene hat so das Gefühl, noch etwas zu können und darum etwas wert zu sein. Biografiearbeit nennt der Fachmann das Bemühen, bei an Demenz erkrankten Menschen Kindheitserinnerungen wachzurufen.
Vor kaum einem Schicksalsschlag fürchten sich die Deutschen mehr, als an einer Demenz zu erkranken. 1,6 Millionen Menschen sind betroffen. Tendenz, steigend! Durch die sich verändernde Gesellschaft, vor allem was das Zusammenleben der Familien angeht, ist die Demenz zu einer Herausforderung für die Gemeinschaft geworden. Auch aus diesem Grund hat sich 2004 die Landesinitiative Demenz-Service Nordrhein-Westfalen mit 13 Demenz-Servicezentren gegründet. Eines davon in Bielefeld in der Trägerschaft der AWO Ostwestfalen-Lippe e.V..
Experten wie Eickmeyer beraten Pflegeeinrichtungen, Museen, den ÖPNV, die Polizei aber auch Justizvollzugsanstalten im Umgang mit Demenzkranken. Sie machen auf die besonderen Probleme Erkrankter im ländlichen Raum aufmerksam und bieten Lösungsvorschläge an. Übrigens auch für Menschen mit Migrationshintergrund. Und neuerdings gibt es eine App für Betreuungsassistenten, die in Bielefeld in Zusammenarbeit mit dem Department of Media/Mixed Reality and Visualization der Hochschule Düsseldorf entwickelt wurde.
„Unser Ziel ist es, dass die Gesellschaft sensibilisiert wird für die Probleme der Demenzkranken. Spätestens, wenn der alte Herr im Bus an der Endstation nicht aussteigt, sollte dem Fahrer klar werden, hier ist meine persönliche Hilfe notwendig, denn vielleicht leidet der Mann an Alzheimer“, so Eickmeyer.
Eigentlich sollte das selbstverständlich sein. Ist es aber nicht. In einer Zeit, in der sich jeder der Nächste ist, bleiben die nicht mehr Leistungsfähigen oft auf der Strecke. Dabei kann es jeden treffen. Auch darum ist die Arbeit der Service-Zentren so wichtig. Wie auch der Tipp von Dirk Eickmeyer: „Legen Sie sich frühzeitig eine Liste mit ganz persönlichen Erinnerungsmomenten an. Die erste Freundin, der Song, zu dem am Samstag in der Disco geschwoft wurde, die Namen der Jugendfreunde oder die Farbe des ersten Autos. Solche Infos können Betreuern irgendwann einmal helfen, das Leid der Vergessenskrankheit zu lindern.“ Also werfen Sie rechtzeitig Anker.
Autor:Lokalkompass Empfehlungen aus Essen |
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