Der umgelegte Schalter

Es war mal wieder einer dieser Tage, an dem die erste Stunde schon Unheil verheissen sollte. Eigentlich tat es das immer: Matheunterricht bei Frau S.. Mal abgesehen davon, dass es Lehrer gab, die durchaus für Willkür bekannt waren, war diese Frau auch noch ein Sonderfall. Sie war meine Oberstufenkoordinatorin, meine Mathelehrerin, unbeliebt bei 90% meiner Klassenkameraden, ausgewählt kein Fan von Jungen, und von Jungen, die nicht sonderlich gut in Mathe sind, schon gar nicht. Kurz: Ich war ziemlich am Arsch. Dabei lag es nicht mal daran, dass ich faul war, ich versuchte mich an den Hausaufgaben und bekam auch Nachhilfe, aber es war nunmal so, das ich mit Mathe schlichtweg nicht viel am Hut hatte. Ich hatte schon seit jeher Probleme damit, mich in Zahlen, Formeln und so weiter reinzudenken. Parabeln sind mir noch heute ein Buch mit sieben Siegeln, von Funktionen ganz zu schweigen. Sie hatte mich also auf dem Kieker. Seit Wochen ging das schon so. Sie nahm mich dran, stellte mich vor der Klasse bloß, gab noch einen dummen Spruch wie „Mathe ist halt nicht für jeden da.“ ab und gab mir unmissverständlich durch ihr hohles Grinsen zu verstehen, wieviel Spass sie daran hatte, mich zu trietzen. Jetzt saß ich da. Wieder einmal. Erste Reihe. Nein, ich war keiner der hinten rumhockte und sich klein machte, ich wollte zeigen dass ich es wenigstens versuchte.
Die Tür ging auf und sie stolzierte herein. Der storchenartige Gang, das hocherhobene Haupt, das irgendwie falsch wirkende Lächeln. Schon blickte sie in meine Richtung und ich wusste schon von vornherein -Jep, sie nimmt dich dran-. Ich sollte Recht behalten. „Dann wollen wir mal sehen, ob der Alexander heute mal etwas richtig gemacht hat!“ tönte sie in ihrer nasalen Stimmlage. Das war jetzt schon das zweite Mal diese Woche, dass sie das so tat. Ich zog die Augenbrauen zusammen und stand langsam auf. Irgendwas in meinem Kopf machte auf einmal -Klick-, ein Schalter legte sich bei mir um. Das Fass war übergelaufen. Nach diesen ganzen Wochen der Häme durch diese Frau verlor ich die Beherrschung. Eine Brandrede quoll aus mir hervor. Ich war nicht einmal laut, meine Stimmlage blieb kühl - zumindest war dies das, was meine Klassenkameraden mir später berichteten. Ich selbst weiß nur noch, wie heiß mein Kopf wurde und in etwa, was ich sagte: Ich fragte sie ob sie nichts Besseres zu tun hätte, als bemühte aber talentlose Schüler vor einer Klasse herumzuschubsen, ob es nicht ihre Aufgabe wäre, den Schülern etwas beizubringen, oder allein ihnen beizubringen, es besser zu machen. Ich fragte sie, ob es ihre Aufgabe sei, den Schülern wirklich die Lust an dem Fach zu rauben, welches sie so offenkundig als die Größte aller Lehren sah. Ein Monolog, der gefühlt zehn Minuten lang über sie einprasselte, in Wahrheit aber keine fünf Minuten anhielt. Dann herrschte gespenstische Stille. Dem ein oder anderen stand buchstäblich der Mund offen, wer konnte es ihnen verdenken, so was hatte in meinem Jahrgang noch keiner gewagt. Irgendwie kam ich wieder zu mir und mein Kopf wurde noch heißer. Ich erwartete das Schlimmste: Einen Tadel, Gespräch beim Schulleiter, oder etwas Vergleichbares. Sie schnappte nach Luft, doch kein Ton kam aus ihr heraus. Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen und sie verließ fluchtartig den Raum. Nur ein langgezogenes Schluchzen war noch zu hören, bevor sie die Tür mit einem Knall schloss. Sie kam in dieser Stunde nicht wieder zurück. Es gab keine Konsequenzen für meine Tat, ich hatte sie so hart erwischt wie Mike Tyson einen Gegner ohne Deckung, Knockout in der ersten Runde.
In den folgenden Wochen sprach sie nicht mehr mit mir, nahm mich nur dran wenn ich mich meldete und die Schikane kam zum erliegen. Doch nicht nur die gegen mich, nein, auch die der Anderen, die unter ihr gelitten hatten. Das änderte zwar alles nichts daran, dass ich nach wie vor eine Niete in Mathe war, aber meine kleine Rebellion machte den Schulalltag für die verbliebenen Wochen erträglicher. Für die gesamte Klasse.

Autor:

Alexander Rohmann aus Wattenscheid

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