Bernhard Schlinks Roman „Das späte Leben“
Zwischen Leben und Tod
„Ich war zu alt, als dass die neue Rolle mein Leben entscheidend hätte verändern können. Ich hatte meinen Ort in der Welt bereits gefunden“, bekannte Bernhard Schlink 2009 in einem FAZ-Interview über sein „zweites Leben“ als Schriftsteller. Er war immerhin schon Mitte vierzig, als er seinen ersten Roman vorlegte, war bis zu seinem 65. Lebensjahr nicht einmal Berufsschriftsteller, und doch hat er mit „Der Vorleser“ einen der (vor allem auch international) erfolgreichsten deutschen Romane der letzten 30 Jahre vorgelegt. Schlink war fast 20 Jahre Richter am Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster und wurde 2009 als Professor für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der TU Berlin emeritiert.
„Der Vorleser“ war für Schlink immer Fluch und Segen gleichzeitig, denn trotz seiner großen Finesse als Erzähler konnten seine letzten Romane „Die Frau auf der Treppe“ (2014), „Olga“ (2018) und „Die Enkelin“ (2021) nicht mehr an die emotionale Sprengkraft der Vorgängerwerke heranreichen.
Doch jetzt hat der inzwischen 79-jährige Schlink noch einmal einen großen Wurf gelandet und einen Roman vorgelegt, der um Liebe, Tod, Eifersucht und Selbstbefragung kreist. „In meinem Alter muss ich mich nicht in die Vorbereitung auf den Tod hineinversetzen, sondern bereite mich auf ihn vor. Nicht, dass ich krank wäre und einen baldigen Tod erwartete, und mich auf ihn vorbereiten, heißt nicht, ständig an ihn zu denken oder für ihn zu planen“, hatte Bernhard Schlink kürzlich in einem Interview erklärt.
Im Mittelpunkt des neuen Roman steht der emeritierte Jurist Martin Brehm, Mitte 70, verheiratet mit der mehr als 30 Jahre jüngeren Malerin Ulla und Sohn des sechsjährigen David. Gleich zu Beginn der Handlung erhält der Protagonist eine schreckliche Diagnose: Bauchspeicheldrüsenkrebs, unheilbar, ihm bleiben nur noch wenige Monate.
Eine Welt bricht zusammen, es gilt, die Gedanken zu ordnen, in sich zu gehen, abzuwägen, was noch unbedingt zu leisten ist. Immer mit der Ungewissheit im Hinterkopf, wie lange die Lebensuhr noch tickt. Schlink lässt uns (ohne großes Pathos) auf bedrückende Weise am emotionalen Chaos seiner Hauptfigur teilhaben. Und über allem schwebt „die Angst, anderen nicht gerecht zu werden."
Martin Brehm, der seinem Sohn mit großer Ausdauer Märchen vorgelesen hat, überlegt, was er seinem Sohn hinterlassen kann. Seine Frau schlägt vor, ein Video aufzunehmen, doch Brehm entscheidet sich für einen langen Brief, dessen Entstehen Schlink in mehreren Episoden in die Handlung integriert hat.
In die Nachricht vom nahen Tod mischt sich bei Brehm auch noch die Erkenntnis, dass ihn seine jüngere Frau betrügt. „Martin fasste nicht, was er sah. Aber was gab es zu fassen?“
Bernhard Schlinks Roman wird von einer dunklen Hintergrundmusik begleitet. Wie fühlt sich ein Mensch mit der Nachricht vom nahen Tod und dem Wissen um die untreue Ehefrau? Es ist ein Auf und Ab, eine diffuse Gemengelage zwischen Trauer, Hilflosigkeit, Trotz und der Suche nach etwas, "was höher ist als unsere Vernunft.“
„Das späte Leben“ ist ein Roman, der tief unter die Haut geht und um die großen Themen Liebe, Tod und Eifersucht kreist und der uns eine Hauptfigur hinterlässt, die sich hadernd und unversöhnt mit dem nahen Tod auseinander setzt: „Der Tod war schlimmer als alles andere, weil alles andere erlebt werden konnte, nur der Tod nicht. Alles andere konnte bedacht, erinnert, erzählt, es konnte in die Biografie integriert werden.“
Ein großes erzählerisches Alterswerk von Bernhard Schlink. Chapeau!
Bernhard Schlink: Das späte Leben. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2023, 240 Seiten, 26 Euro
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
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