Leila Slimanis großartiger Roman „Das Land der Anderen“
Zu keiner Seite gehören

Sie wird im Oktober erst vierzig Jahre alt, hat bereits 2016 den renommierten „Prix Goncourt“ erhalten und nun schon drei bedeutende Romane vorgelegt. Die Rede ist von der in Rabat geborenen und seit vielen Jahren in Paris lebenden Leila Slimani. Ihr 2017 in deutscher Übersetzung erschienener, preisgekrönter Roman „Dann schlaf auch du“, in dem ein Kindermädchen zur Mörderin wird, wurde in Frankreich im ersten Jahr gleich 350.000-mal verkauft.

In ihrem dritten Roman hat die Tochter aus großbürgerlichem Haus (ihre Mutter war Ärztin, ihr Vater zwei Jahre marokkanischer Wirtschaftsminister) den Lebensweg ihrer Großeltern fiktionalisiert. Herausgekommen ist dabei ein ebenso faszinierendes wie beklemmendes Opus über das Fremdsein.
Hauptfiguren sind der Marokkaner Amine Belhaj und seine französische Frau Mathilde. Sie lernen sich gegen Ende des Zweiten Weltkriegs im Elsass kennen. Mathilde ist unsterblich verliebt in den Offizier der französischen Armee und folgt ihm später in sein Heimatland Marokko. Zunächst leben sie in Amines Familie („Mathilde musste sich an dieses Leben gewöhnen, alle miteinander in dem Haus, dessen Matratzen voller Wanzen und Ungeziefer waren.“), ehe sie sich dann ihr eigenes Leben auf einer Farm im Norden Marokkos einrichten.
Eine Existenz zwischen Marokko und Frankreich, zwischen Christentum und Islam, zwischen liberaler europäischer Lebensweise und marokkanischen Traditionen. All die damit verbundenen Kalamitäten hat Autorin Leila Slimani geradezu meisterlich in einer kurzen Sequenz zwischen Mathilde und ihrer Tochter Aicha komprimiert. Mathilde erzählt ihr von einem besonderen Baum, der einst aus einer Kreuzung zwischen Zitrone und Orange entstanden ist, den sie „Zitrangenbaum“ zu nennen pflegt und dessen Früchte ungenießbar sind: "Wir sind wie dein Baum, halb Zitrone, halb Orange. Wir gehören zu keiner Seite."
Ein tiefer Riss geht auch durch Amines Familie. Sein Bruder Omar wird zum glühenden Nationalisten, während sich die jüngere Schwester Selma zu einer selbstbewussten und lebenshungrigen Frau entwickelt. Mit Beginn der Unabhängigkeitsbewegungen in den Maghreb-Staaten wird das Leben für Amine und seine Familie immer komplizierter. Als einstiges Mitglied der französischen Armee, das zudem noch mit einer Französin verheiratet ist, schlägt ihm Ablehnung und blanker Hass entgegen. Auch die Kinder werden in der Schule ausgegrenzt. Mathilde ist der Verzweiflung nahe: "Sobald sie alleine waren, verbarrikadierte er sich hinter seinem Schweigen und litt unter der Schmach, dass er feige gewesen war und sein Volk verriet.“
Leila Slimani erzählt aus einer relativ distanzierten auktorialen Perspektive. Detailliertes beobachten ist ihr wichtiger als das tiefe Eintauchen in die Psyche ihrer Figuren. Das wirkt sehr traditionell, bisweilen sogar etwas altbacken und ausschweifend. Doch diese junge Schriftstellerin hat eine beinahe singuläre Kunst entwickelt. Sie evoziert einen Romankosmos, in dem der Alltag im Großen wie im Kleinen, die Lebensverhältnisse und das Interagieren der Figuren im Mittelpunkt steht. Diese unsichere Gemengelage zermürbt die Menschen.
Der Roman „Das Land der Anderen“ endet im Jahr 1955 mit den einsetzenden, blutigen Unabhängigkeitskämpfen zwischen Nationalisten und Franzosen – und mittendrin die entwurzelte Familie von Amine und Mathilde. Sie sind immer die Anderen gewesen - die zwischen den Staaten lebten, die von den Nachbarn verachtet wurden, die in ihren Familien einen schweren Stand hatten und die nicht viel mehr wollten als eine kleine Lebensnische zwischen den so unterschiedlichen Kulturkreisen. Ein faszinierender Roman, der Brücken schlagen will – aus der Feder einer noch jungen, aber schon jetzt ganz großen Autorin.

Leila Slimani: Das Land der Anderen. Roman. Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Luchterhand Verlag, München 2021, 379 Seiten, 22 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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