Javier Marias' grandioser Roman "Berta Isla"
Zerstörerisches Doppelleben

Welch ein Romaneinstieg! "Es gab eine Zeit, da war sie sich nicht sicher, ob ihr Mann ihr Mann war." Damit sind Zweifel und Misstrauen gesät, die wie in einer Endlosschleife als permanente Hintergrundmusik die mehr als 600 Seiten umfassende Handlung des neuen Romans des großen spanischen Autors Javier Marías begleiten.

"Je älter ich werde, desto weniger Gewissheiten habe ich", erklärte Marías vor einigen Jahren in einem Interview. Über sechs Millionen Exemplare seiner in 34 Sprachen übersetzten Romane, Erzählungen und Essays sind weltweit über die Ladentische gegangen. Dabei ist der 67-jährige Madrilene Javier Marías alles andere als ein leicht konsumierbarer Mainstreamautor. Seine oftmals verschachtelten und mit Querverweisen auf die Weltliteratur gespickten Romane werden in Spanien dem Pensamiento literario (dt. literarisches Nachdenken) zugerechnet - eine Art philosophisches Erzählen.
Und nicht anders verhält es sich mit seinem neuen opulenten Erzählwerk. Die Titelfigur Berta Isla lebt mit ihrem Mann Tomás Nevinson, ein hochbegabter Oxford-Absolvent, und zwei Kindern in Madrid. Irgendwann schöpft sie Verdacht, dass etwas mit ihrem Mann nicht stimmt. Ihre Vermutung erweist sich als zutreffend, doch ehe der Leser und die Protagonistin die wahren Zusammenhänge dechiffrieren können, gehen viele Buchseiten ins Land.
Wir begegnen auf einer retrospektiven Erzählebene Peter Wheeler und Bertram Tupra, den beiden gewieften und ziemlich kaltblütigen Geheimdienstlern aus dem Marías Erfolgsroman "Dein Gesicht morgen" (2002). Tomás hat sich als Spezialist für ausgefallene Dialekte diverser Sprachen einen Namen gemacht und dadurch das Interesse des Geheimdienstes geweckt. "Was auch immer seine Ohren erreichte, verstand er sofort, merkte es sich und gab es exakt und kunstvoll wieder." Doch Tomás kann offensichtlich nicht nur Dialekte imitieren, sondern auch ziemlich überzeugend, in fremde Rollen schlüpfen. "Etwas Vorbereitung je nach Fall, und du würdest an nicht wenigen Orten als Einheimischer durchgehen", loben ihn die Geheimdienstler. Zunächst sperrt sich Tomás gegen die Offerte, doch die unsichtbare Macht schlägt gnadenlos zurück, verwickelt ihn äußerst listig in einen Mordfall, aus dem es offensichtlich nur durch den Geheimdienst für ihn einen Ausweg gibt. Tomás wird Opfer einer dreisten Erpressung und muss fortan sein Leben ändern.
In Javier Marías Roman geht es um Schein und Wirklichkeit, um Inszenierungen eines Doppellebens und all den damit verbundenen Verstrickungen. Familiäre Beziehungen werden zerstört, die eigene Persönlichkeit wird nahzu aufgegeben und der absoluten Fremdbestimmung geopfert. Es entsteht so auch ein intellektueller Schlagabtausch auf hohem Niveau, den sich die Figuren innerhalb des feingesponnenen Intrigennetzes liefern.
Titelfigur Berta stellt Tomás wiederholt zur Rede. Er schweigt beharrlich über Details und wähnt sich moralisch sogar auf der "richtigen" Seite, sieht seine Agententätigkeit als "Dienst am Vaterland" und verschwindet oft auch - ohne Ankündigung - für mehrere Monate. Berta konstatiert eine "grundlegende Gleichgültigkeit gegenüber seiner Existenz".
Die verschlungene Handlung wird (wie bei Marías seit Jahr und Tag üblich) in einen großen politischen Kontext eingebettet - sowohl in Spanien als auch in England. Der zähe Übergang von Franco zur Demokratie, der Terror in Nordirland und der Falkland-Krieg bilden den reich ausstaffierten äußeren Erzählrahmen des Romans, der auch mit literarischen Anspielungen und selbstreferenziellen Bezügen nicht geizt. Die literarische Marías-Welt drehte sich schon häufig (und aus seiner eigenen Biografie begründet) zwischen den Polen Madrid und Oxford.
Spielerisch leicht wechselt der Autor zwischen auktorialer Erzählhaltung und der viel intensiveren Ich-Perspektive der Titelfigur, deren Inneres Marías auf gleichermaßen faszinierende wie erschütternde Weise nach Außen kehrt.
"In einem meiner Romane habe ich geschrieben: Es kommt der Moment, in dem es schwierig ist, das, was man gelesen hat, zu trennen von dem, was man erlebt hat. Beides sind Erfahrungen", hatte Marías einmal (durchaus zutreffend) sein eigenes Schreiben charakterisiert, das immer auch ein Suchen und Erforschen, ein Hinterfragen und Entlarven impliziert. Javier Marías spielt mit Möglichkeiten und erkundet immer wieder mit großer Meisterschaft die Grenzbereiche in der menschlichen Psyche.
"Berta Isla" präsentiert uns ein geheimnisvolles Changieren zwischen Vertrautheit und Fremde, alles ist in der Schwebe, selbst im tiefsten Innern der Figuren gibt es Risse, die nicht mehr zu kitten sind. Ein Drahtseilakt zwischen intimer Nähe und völliger Entfremdung. Marías erzählt ohne Netz und doppelten Boden über die tiefreichenden, radikalen Zerstörungen durch fremde Mächte und wie sich Menschen dadurch verlieren können. Schonungslos, gnadenlos, aber vor allem grandios. Wieder einmal eine nachdrückliche Empfehlung für den Nobelpreis.

Javier Marías: Berta Isla. Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2019, 655 Seiten, 26 Euro.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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