Valery Tscheplanowa: „Das Pferd im Brunnen“
Wir sind alle geliehen
„Ich habe einiges erfunden, einiges ist dazu gekommen aus anderen Familien. So habe ich ein Bild gebaut“, hat kürzlich die 43-jährige, in Kasan (Russland) geborene Valery Tscheplanowa, die mit acht Jahren mit ihrer Mutter nach Deutschland kam, in einem Interview erklärt. Ihr eigenes Leben hat sie einmal als Groschenroman bezeichnet. Bisher war Tscheplanowa als Schauspielerin in Erscheinung getreten, hatte in Heiner Müller-Stücken (unter Dimiter Gotscheff) und kürzlich in Salzburg im „Nathan“ geglänzt.
Eine Frau, die mit Sprache umzugehen versteht, die sie sich förmlich einverleibt und dadurch diesem autofiktionalen Erinnerungsbuch einen ganz speziellen, poetischen Atem verleiht. Ihr Vater, ein Mathematiker, ist jung gestorben. Ihre Mutter, die als Übersetzerin an der Universität in Kasan arbeitete, lernte einen leidlich erfolgreichen deutschen Entertainer kennen, zu dem sie in den Landkreis Rendsburg-Eckernförde übersiedelte
Ich-Erzählerin Walja arbeitet sich an den Lebenswegen von Frauen ihrer Familie aus vier Generationen ab – neben dem eigenen widmet sie sich Urgroßmutter Tanja, Großmutter Nina und Mutter Lena.
Valery Tscheplanowa folgt dabei nicht der Chronologie, sondern verknüpft assoziativ Erinnerungen, familiäre Legenden (u.a. von einem Pferd, das in einen Brunnen gefallen sein soll) und fiktive Einschübe.
Die Autorin hüpft nicht nur geschickt zwischen verschiedenen Zeitebenen hin und her, sondern nimmt uns als subtile Beobachterin auch mit ganz unterschiedliche Handlungsorte: eine psychiatrische Klinik, ein buntest Treiben beim Eierverkauf, in das Holzhaus ihrer Großmutter an der Wolga und in das neue Zuhause an einer Bundesstraße in Schleswig-Holstein.
Valery Tscheplanowa strebt eine Verknüpfung zwischen den Generationen an, sie verknotet Lebensläufe und Erinnerungen. Dahinter steckt das Bemühen, diese Biografien auf ewig miteinander zu verschweißen – tief im Innern und mit der Kraft der Sprache.
„Vielleicht sind wir alle geliehen, Leihobjekte, geliehene Haut, Knochen, Fleisch und Zähne. Nasen, die geliehene Luft atmen, Zähne, die geliehenes Essen kauen, und irgendwann in einem unvorhersehbaren Moment gibt es einen Riss, und das geliehene Material fällt auseinander und verwandelt sich in übelriechende Reste, die dann zu Erde werden“, heißt es im Text, dessen Tonfall zwischen Melancholie und zarter Hoffnung changiert.
Es geht auch um Aufbrüche, Zäsuren und ein diffuses Heimatgefühl der Ich-Erzählerin, die (auch wenn es kitschig klingen mag) aus ihrer Seele heraus noch eine starke Affinität zu Kasan verspürt. Die junge Walja bekennt über ihr Verhältnis zuihrer Großmutter: „Ich erkenne unter meiner Haut ihre Haut. Sie hat sich in mich verwandelt, ich erzähle sie weiter, bin ihr Echo. Unsere Haut ist eine Geschichte, die wir fortschreiben.“
„Das Pferd im Brunnen“ präsentiert eine reizvolle, absolut uneitele Erkundung des eigenen Lebens und eine facettenreiche poetische Aneignung der Familiengeschichte – ohne erhobenen moralisierenden Zeigefinger und ohne jede politisch-moralische Wertung. Vieles spielt sich auf einer hoch emotionalen Ebene ab. Und als Leser fühlt man ganz intensiv mit, ist hautnah bei den Figuren – dank Valery Tscheplanowas wunderbarer Sprache.
Valery Tscheplanowa: Das Pferd im Brunnen. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023, 190 Seiten, 22 Euro
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
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