Katja Lange-Müllers Roman „Unser Ole“
Wenn es an Liebe fehlt
Katja Lange-Müller ist alles andere als eine Vielschreiberin. Trotz ihres relativ schmalen Oeuvres gehört sie zu den renommiertesten Stimmen der zeitgenössischen Literatur. 2016 hatte sie uns zuletzt in ihrem schmalen Roman „Drehtür“ mit der Protagonistin Asta Arnold eine herzensgute, aber letztlich gescheiterte Figur präsentiert. „Ich mag solche Figuren und ich sehe sie auch überall. Ich hatte immer solche Randfiguren, vom ersten Buch bis zum jetzigen“, hat die inzwischen 73-jährige Autorin kürzlich in einem Hörfunkinterview erklärt.
Anfang der 1970er Jahre hatte die gelernte Schriftsetzerin Katja Lange-Müller, Tochter einer einflussreichen SED-Politikerin, als Hilfskrankenschwester in der geschlossenen Psychiatrie gearbeitet, und die Bewältigung ihres ersten Todesfalls während einer Nachtschicht soll sie zum Schreiben gebracht haben. 1984 war sie in den Westen übergesiedelt und hatte zwei Jahre später den Ingeborg-Bachmann-Preis erhalten.
Ihrem neuen Roman hat sie ein Motto von einer Gruppenpsychotherapeutin voran gestellt: "Sie durchschauen einander, aber sich selbst kennt keine." Gemeint sind damit drei Frauen, die alle an fehlender Zuneigung leiden. Als Bindeglied zwischen diesen höchst unterschiedlichen Figuren fungiert Ole, ein lernbehinderter 15-jähriger Teenager: „Sein Intelligenzquotient soll etwa bei vierzig liegen, zudem gilt er als autistisch. Von der allgemeinen Schulpflicht ist er jedenfalls befreit und in die Sonderschule geht er auch nicht.“
Ole lebt bei seiner Großmutter Elvira, die ihn abwechselnd schikaniert und verwöhnt, vor den Toren von Berlin. „Elviras Eigenheim, ein rauputzgrauer Würfel mit Eternitdach, befindet sich auf einem Eckgrundstück am Rande eines Dorfes nahe der Hauptstadt, von der aus es per Auto gut, per Regionalbahn und Bus aber nur bis neun Uhr abends zu erreichen ist.“
Elvira holt sich zur Unterstützung im Haus und bei der Versorgung von Ole die mittellose Ida ins Haus, die sich ihre karge Rente durch gelegentliche Jobs als Model bei Seniorinnenmodenschauen aufbessert.
Zwei Frauen jenseits der siebzig, für die eine Art „Herr-und-Knecht-Verhältnis“ zum Alltag wird und deren einzige bedeutungsvolle Gemeinsamkeit ist, dass sie sich von ihren Müttern nicht geliebt fühlten. „Jetzt mimt der den toten Käfer, der Unhold“, entfährt es Ida, als Ole regungslos auf seinem Bett liegt. Der Ton und die Umgangsformen sind mehr als rau.
Witwe Elvira litt in jungen Jahren zudem darunter, dass ihr Mann die eigene Tochter Manuela emotional vorzog. Sie zahlte es der Tochter durch kühle Ignoranz heim, will es am Enkel Ole dann kompensieren, aber das Leben mit ihm, den sie ein „notgeiles Riesenbaby“ nennt, gerät aus den Fugen. Elviras Belastbarkeit stößt an ihre Grenzen.
Dann geschieht ein Unglück, bei dem Elvira ums Leben kommt. Ist sie gestolpert oder hat der kräftige Ole bei ihrem Sturz nachgeholfen? Katja Lange-Müller hält diese Frage bewusst in einem Schwebezustand.
Mit dem Auftauchen von Elviras Tochter Manuela, die ihren Sohn Ole seit dem ersten Lebensjahr nicht mehr gesehen hat, erhält die Handlung noch eine neue Facette. Sie erbt das Haus ihrer Mutter („das letzte Loch im Berliner Speckgürtel“) und lebt ihren Egoismus ohne Umschweife aus: „Die alte Schachtel legt sich krumm für mich und Ole“, befindet Manuela über Ida.
„Mutter-Tochter-Dramen beschäftigen mich schon lange“, hatte Katja Lange-Müller (wohl auch die eigene Vita dabei im Blick) in einem RBB-Interview erklärt. Sie hat in „Unser Ole“ die kleinen und großen Schwächen ihrer Figuren mit großer Meisterschaft seziert. Katja Lange präsentiert uns eine Verknüpfung von schicksalhaften Tragödien, die zum selbstverständlichen Alltag geworden sind. Gnadenlos und manchmal brutal – so wie das Leben ohne Liebe eben ist.
Katja Lange-Müller: Unser Ole. Roman. Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2024, 240 Seiten, 24 Euro.
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
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