Katharina Hackers Roman „Die Gäste“
Wenn die Ratten barfuß gehen

„Ich war neugierig, was mir meine Großmutter, die vor siebzehn Jahren gestorben war, wohl ausrichten wollte", denkt die Protagonistin Friederike an ihrem 50. Geburtstag, als sie einen Brief des Rechtsanwalts Kolk erhält, der sie in seine Kanzlei bittet. Es geht um eine folgenschwere Erbschaft.

Autorin Katharina Hacker, die 2006 für ihren Roman "Die Habenichtse" mit dem Deutschen Bücherpreis ausgezeichnet wurde, hat schon einmal in einem Vorgängerwerk eine ungewöhnliche Erbschaft als Plot arrangiert. In „Dorfgeschichte“ (2011) ging es um das Erbe eines alten Schulhauses.
Nun ist alles viel skurriler, märchenhafter, absurder und doch auf eine ganz eigenartige Weise auch beängstigend. Das liegt daran, dass die 55-jährige Katharina Hacker hier einen geradezu künstlerisch-artistischen Spagat zwischen Märchen, Dystopie und Humoreske versucht.
Protagonistin Friederike, die seit dreißig Jahren am Institut für schwindende Idiome arbeitet und vor einiger Zeit von ihrem Partner Daniel, der einen Forschungsauftrag in den USA angenommen hat, und ihrem Sohn Florian verlassen wurde, erbt ein herunter gekommenes Café im Berliner Bezirk Tiergarten.
Das wird von allerlei seltsamen Typen frequentiert, und unter einer Luke hausen schauspielerisch talentierte Ratten. Drumherum drapiert Katharina Hacker ein
Horrorgemälde von Berlin. Die Metropole leidet nicht nur unter verschiedenen Pandemien, es ergießt sich auch schwarzer Regen vom Himmel, Drohnen und Scharfschützen gehören zum alltäglichen Stadtbild. „Graue Ratten, größer als alle, die ich auf der Straße gesehen hatte, und eine noch einmal größer, fast dreißig Zentimeter hoch, mit einem schwarzen Umhang und einem Stock in der Pfote. Sie gingen aufrecht, einige barfuß, andere hatten halbhohe Stiefel an.“
Alles scheint irgendwie vom Verfall bedroht zu sein, eine Zeitenwende zeichnet sich ab, tradierte moralische Werte scheinen sich in Luft aufzulösen. Katharina Hacker erzählt hier aus einem Zwischenreich, von einem Mikrokosmos, der sich in einem unaufhaltsamen Wandel, wenn nicht gar in Auflösung befindet. Das alles wirkt arg konstruiert, geradezu an den Haaren herbei gezogen, aber es ist wahrlich bravourös erzählt. Diese kuriose inhaltliche Melange, der rational kaum beizukommen ist, fesselt auf einer seltsamen Ebene zwischen Horror und Humor.
Katharina Hacker lässt uns in eine inszenierte Parallelwelt der Ratten blicken, die alles andere als ekelerregend dargestellt ist. Die Tiere haben sich ein ausgeprägtes Sozialverhalten angeeignet, bekommen viele menschliche Züge verliehen und tragen sogar Sonnenbrillen.
Die alleinstehende Friederike hat viel Energie investiert, nachdem ihr der bisherige Inhaber die Lokalität und auch sein Personal, die polnische Kellnerin Kasia und ihren Freund Stislaw übergeben hatte. Hat sie eine neue Lebensaufgabe gewittert?
In einem angrenzenden Schuppen halten sich eine Menge Tiere auf, darunter ein weißer Hund namens Pollux, der ihr zum Begleiter wird. Und dann all die schrägen Gäste wie Robert, der Mann im langen Mantel, der in den Karpaten Bären zählt oder der Zuhälter Benedikt, der das Café zum Treffpunkt für Prostituierte umfunktioniert und nebenbei auch noch einen florierenden Organhandel betreibt.
„Die Gäste“ ist ein völlig unkonventionelles Buch, das vermutlich von jedem Leser anders interpretiert und emotional aufgenommen wird. Ein Roman zwischen fabelhaftem, anspielungsreichem modernen Märchen und leicht kalauernder Dystopie. Schlussendlich ist es aber auch ein Buch über das Alleinsein, über den krampfhaften Versuch, irgendwie der Einsamkeit zu entfliehen. „Zuhause ist niemand, dem ich eine Tasse Tee bringen könnte“, bekennt Protagonistin Friederike.

Katharina Hacker: Die Gäste. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2022, 256 Seiten, 20 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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