Wenn die Landschaft Trauer trägt


Esther Kinskys für den Leipziger Buchpreis nominierter Roman „Hain“

„Jeden Morgen wache ich in einer Fremde auf“, heißt es in Esther Kinskys viertem Roman „Hain“, und das ist nicht nur geografisch gemeint. Eine Frau begibt sich an drei unterschiedlichen Orten in Italien auf Spurensuche. Als „Geländeroman“ hat die 61-jährige Autorin und Übersetzerin ihr Werk bezeichnet. Man könnte es auch Landschaftsroman nennen, doch Gelände klingt wilder, ungezügelter – und so ähnlich geriert sich auch der Roman, der uns durch unwegsame Territorien führt.

Der Titel „Hain“ weckt gleich Assoziationen zum Totenhain, und tatsächlich erkundet Esther Kinsky ein Zwischenreich, sie vermisst poetisch zugespitzt die Schwelle zwischen Diesseits und Jenseits. Erinnerungen an den verstorbenen Lebensgefährten M und an ihren Vater, der ein großer Italien-Liebhaber war und sich oft und gern allein in die Natur zurückzog und daraus so etwas wie spirituelle Energie schöpfte, verknüpft die Erzählerin, die Esther Kinsky nicht unähnlich ist, mit eigenen Wanderungen und Eindrücken in einem östlich von Rom gelegenen Dorf, in Chiavenna in der Lombardei und im Po-Delta und im nahen Ferrara.
So entstehen viele detaillierte, beinahe fotografisch exakte Beschreibungen der Natur, die mit großer sprachlicher Finesse zu Papier gebracht wurden. Friedhofsbesuche erhalten durch Kinskys Sprachkraft einen eigenwilligen, beängstigenden morbiden Charme. Die persönliche Trauer korrespondiert fortwährend mit den Naturbeobachtungen. Orte, die Gefühle widerspiegeln, Landschaften, die Erinnerungen wachrufen, das Wasser der Flüsse und Bäche, das nicht versiegt und für ewige Existenz steht.
Passend zur diffusen inneren Befindlichkeit der Hauptfigur, einer emotionalen Melange aus Trauer und Trost, begleiten wir sie in der dunklen Jahreszeit auf ihrer Erinnerungswanderung. Nicht das strahlende, mediterrane Licht, sondern grau-braune Töne prägen die Landschaft – nicht die gepriesene italienische Lebensfreude, sondern eine mysteriöse Schwermut hallt als Echo aus der Landschaft wider.
Und dann gibt es wieder wunderbare, geradezu pittoreske Spaziergänge durch Ferrara, die Stadt des großen Schriftstellers Giorgio Bassani (1916-2000), und idyllische Schilderungen des naturbelassenen Po-Delta, das nahtlos in die unendliche Weite der Adria überzugehen scheint.
„Hain“ ist auch ein Buch der permanenten Grenzerkundung und Grenzüberschreitung, der Aneignung fremder Biografien ebenso wie fremder Kulturen. So ist es kein Zufall, dass das letzte Treffen der Erzählerin mit ihrem Vater, dem enthusiastischen Italien-Liebhaber, ausgerechnet in Triest stattfand - an der Nahtstelle zwischen italienischer, slawischer und österreichisch-ungarischer Kultur.
„Es ist ein Bild der Trauer.“ So beginnt der letzte Satz des Romans, der sich beinahe wie ein Resumee der Handlung lesen lässt. „Er gereicht zu keinem Trost in der Hinterlassenschaft“, heißt es schließlich final. Genau zwischen diesen beiden Polen, zwischen Trost und Trauer, kreist dieser feingesponnene Roman mit seinem absolut singulären Tonfall.
Esther Kinsky ist eine Poetin, die mit dem Auge schreibt. So genau, so detailliert und so präzise formuliert - wohlklingend, empathisch und hoch empfindsam. Vielleicht ist sie damit der „Geheimsprache“ ganz nahe gekommen, die im Wittgenstein-Zitat gemeint ist, das dem Roman vorangestellt ist.

Esther Kinsky: Hain. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, 281 Seiten, 24 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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