Norbert Gstreins Roman „Als ich jung war“
Von Tirol nach Wyoming

Der 58-jährige Norbert Gstrein gehört längst zu den wichtigsten Stimmen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Der Österreicher ist bekannt dafür, dass er literarisch gern Tacheles redet und keinen großen Bogen um brisante Themen macht. Nach dem Balkankrieg („Das Handwerk des Tötens“) und einer gegen Suhrkamp-Chefin Ulla Berkéwicz gerichteten Roman-Persiflage („Die ganze Wahrheit“) hatte er sich zuletzt in „In der freien Welt“ (2016) mit dem Nahostkonflikt und in „Die kommenden Jahre“ (2018) mit den nach Flüchtlingsströmen in Mitteleuropa auseinander gesetzt.

Sein neuer Roman fällt etwas aus diesem Rahmen, da er stärker auf die private Sphäre einer einzelnen Figur fokussiert ist und zumindest vordergründig sogar Thrillermotive beeinhaltet.Im Mittelpunkt steht der (wie Autor Gstrein) aus Tirol stammende Franz, dessen Eltern ein Hotel betreiben, das auf die Ausrichtung von Hochzeitsfeiern spezialisiert ist.

Franz, der sein Studium abgebrochen hat, steuert anspruchsvolle Hochzeitsfotos vor malerischer Bergkulisse bei., die „einen Blick in die Unendlichkeit“ gewähren. Irgendwann geht etwas schief, und die Braut wird mit gebrochenem Genick unter einem Felsvorsprung gefunden. Was ist passiert? Auch die polizeilichen Ermittlungen bringen kein Licht ins Dunkel der Bergwelt. Stattdessen machen wilde Gerüchte die Runde.
Franz verlässt das Elternhaus, an dem die gutbürgerliche äußerliche Fassade über die handfesten Animositäten im Innern hinweg täuschen sollte. Oft hat er aus einem Nebenzimmer von den Selbstmordabsichten seiner Mutter gehört.
Der schüchtern-introvertierte Protagonist flieht aus dem heimatlichen Tirol und sucht dann in Wyoming als Skilehrer sein Glück. Zu seinen Stammkunden gehört dort der aus der Tschechoslowakei übergesiedelte international renommierte Raketenphysiker Frantisek.
Jahre später kommt es wieder zu einem mysteriösen Todesfall. Der Professor rast ohne Helm auf Skiern frontal gegen einen Baum. Erneut wird polizeilich ermittelt, und auch jenseits des Atlantiks breitet sich ein gefährliches Gemisch aus Spekulationen und Halbwahrheiten aus. Von einer homosexuellen Beziehung zwischen Franz und Frantisek ist die Rede, sogar Missbrauchsvorwürfe gegenüber dem toten Wissenschaftler stehen im Raum.
Norbert Gstrein erzählt auf seine gewohnt elegant-langatmige Weise von zwei Todesfällen und den daraus resultierenden Gerüchten, Fantasien und Obsessionen. Zeitlich getrennt durch 13 Jahre und räumlich durch den Atlantik offenbaren sich peu à peu dennoch Parallelen zwischen Tirol und Wyoming. Gescheiterte Lebensentwürfe, exaltierter Männlichkeitswahn, latente und offene Missbrauchsvorwürfe kommen hier wie dort zu Tage.
Auf einem Pick-up fährt Franz die Leiche des Professors zur letzten Ruhestätte, dann bricht er auf zur Rückkehr in die Heimat.
Franz kehrt physisch wie psychisch angeschlagen nach Tirol zurück – mit reichlich Schuldgefühlen im Gepäck. Es quält ihn auch die Erinnerung an ein Jugenderlebnis in Tirol, als er eine hochtalentierte, junge Geigerin, in die er sich unsterblich verliebt hatte, gegen ihren Willen geküsst hatte. Nach seiner Rückkehr nach Österreich heftet sich Franz beinahe zwanghaft an die Fersen der inzwischen berühmten Musikerin.
Norbert Gstrein hat viele falsche Fährten gelegt, geradezu labyrinthisch bewegt man sich durch diesen zwar nicht im klassischen Sinne spannenden, aber dennoch fesselnden Roman. Der Autor führt uns absichtsvoll in die Irre. Seine Figuren haben mit Gerüchten, Anspielungen und Lügen zu kämpfen. So ähnlich geht es auch dem Leser, der manchmal verzweifelt nach Halt sucht beim Kampf zwischen Fiktion, Meta-Fiktion und doppelbödiger Irreführung und sich am Ende der langen Romanreise von Tirol nach Wyoming und zurück von Norbert Gstrein erzählerisch an der Nase herum geführt fühlt. "Solange niemand etwas von mir wusste, konnte ich alles erzählen, und das war ein guter Anfang." Was diesen Roman angeht, halten wir uns am besten an Marcel Reich-Ranickis finalen Stoßseufzer am Ende jeder Sendung des Literarischen Quartetts: „Wir sehen betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.“

Norbert Gstrein: Als ich jung war. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2019, 349 Seiten, 22 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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