Kristine Bilkaus Roman „Nebenan“
Verstörendes Kleinstadtbiotop

"Es geht um das soziale Miteinander und die Orte, an denen es passiert. Oder wie Orte unser soziales Miteinander prägen können und umgekehrt, unser Miteinander sich in die Orte einschreibt", hatte Autorin Kristine Bilkau kürzlich in einem Interview mit dem NDR über ihren dritten Roman erklärt.

Dieser von vielen subtilen Beobachtungen geprägte Roman droht den Leser mit seinem breiten Themenspektrum beinahe zu erschlagen. Es geht um zwei auf unterschiedliche Weise unglückliche Paare, um das Aussterben von Kleinstädten, um suspekte Personen und Gerüchte aus der Nachbarschaft, vor allem geht es aber um so etwas banales wie die Suche nach Vertrauen.
Die 48-jährige in Hamburg lebende Kristine Bilkau, die mit ihren Vorgängerromanen „Die Glücklichen“ (2015) und „Eine Liebe, in Gedanken“ (2018) auf ein positives Echo gestoßen ist, beleuchtet das Leben von zwei Frauen, die unterschiedlicher kaum sein können. Da ist die Ärztin Astrid, die die sechzig überschritten hat, Mutter von drei Kindern ist und noch als Hausärztin praktiziert. Ihr Ehemann Andreas, ein pensionierter Geschichtslehrer, genießt den Großteil seiner nun üppig bemessenen Freizeit – über die Weltpolitik philosophierend - im Schlafanzug.
Ihr gegenüber steht die äußerst sprunghaft gezeichnete Julia, die mit ihrem Mann Chris aus Hamburg aufs „Dorf“ gezogen ist - in ein Haus nahe des Nord-Ostsee-Kanals. Sie eröffnet in der nahezu verwaisten Kleinstadt ein Ladenlokal, in dem sie ihre selbstgefertigten Keramikprodukte anbietet, eher als Zeitvertreib denn mit handfesten kommerziellen Plänen. Wie ein Trauma begleitet sie der bisher unerfüllte Kinderwunsch durch den Alltag. Die Dreißigjährige besucht häufig Online-Plattformen zum Erfahrungsaustausch mit Frauen, denen das Kinderglück bisher auch verwehrt blieb. Die Social-Media-Visits flößen ihr jedoch mehr Angst als Hoffnung ein. Auch in den Horoskopen findet die hoffnungslos naiv auftretende Julia keine Zuversicht.
"Ich bin viel in diese Städte gefahren, Rendsburg, Elmshorn, Itzehoe und hab eigentlich erst einmal nur hingesehen und für mich dokumentiert", so die Autorin, die hier auch den Kontrast zwischen boomenden Metropolen und dahinsiechenden Kleinstädten skizzieren will.
Julias Nachbarhaus steht leer, die Vorbesitzer sind mehr oder weniger spurlos verschwunden. Eines der Kinder hat allerdings eine mysteriöse Botschaft hinterlassen. Kristine Bilkau hat der namenlosen Kleinstadt eine nebulös-beängstigende Aura übergestülpt. Ärztin Astrid erhält in ihrer Praxis Drohbriefe, auch in ihrer Nachbarschaft existiert ein leeres Haus, in dem einst ihre Freundin Marli lebte. Auch sie ist weg gezogen, weil sich ihr Sohn als brutaler Tierquäler entpuppt hat. Psychisch aus dem Gleichgewicht geraten sah Marli den einzigen Ausweg in der Flucht. Freundin Astrid, die Medizinerin mit dem großen Herz, blieb tatenlos.
„Sie sehnte sich nach einem kleinen Lebensradius, der so wenig Schaden anrichten würde wie möglich“, heißt es über Julia. Die Lebensverhältnisse der Figuren haben sich beinahe ebenso schnell und grundlegend geändert wie die Stadtbilder.
Kristine Bilkau hat einen feinen Blick für Details, aber ihr bisweilen plaudernder, fast monotoner Tonfall evoziert keine tiefgehenden Emotionen. Man leidet nicht mit den Figuren, man nimmt lediglich wie eine Art Beobachter aus der Ferne an ihrem Alltag teil.
Das Unausgesprochene, das Unterdrückte beinhaltet eine gewisse emotionale Brisanz, und groß ist die Angst vor einer zunehmenden Individualisierung. „Dünn ist ihr Netz aus Verbindungen“, heißt es über Julia. Am Ende ist alles in der Schwebe, und man kann sich als Leser den letzten Satz des Romans wie einen kollektiven Aufschrei, wie einen unterdrückten Wunsch aller Figuren vorstellen: „Das Vertrauen in einen anderen Menschen.“

Kristine Bilkau: Nebenan. Roman. Luchterhand Verlag, München 2022, 288 Seiten, 22 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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