Gert Loschütz' vielschichtiger Erinnerungsroman „Besichtigung eines Unglücks“
Vermutungen und Rückschlüsse
"Eisen auf Eisen, das Kreischen der sich ineinander bohrenden Wagen, das Knirschen der sich stauchenden Bleche, das Krachen und Splittern zerberstenden Holzes. Alles in eins. Mit einer solchen Gewalt, dass es im Umkreis von zehn Kilometern zu hören ist. Die Leute schlafen und schrecken aus dem Schlaf hoch. Dann wieder Stille. Noch tiefere Stille.“ So beschreibt Autor Gert Loschütz das dem Roman zugrunde liegende Unglück.
Am 22. Dezember 1939 raste ein aus Berlin kommender Personenzug kurz vor dem Bahnhof Genthin (ca. 100 Kilometer westlich von Berlin) in einen haltenden Zug. In der bitterkalten Nacht soll es zwischen 200 und 400 Tote gegeben haben.
Gert Loschütz, der im Oktober seinen 75. Geburtstag feiert und seit den frühen 1970er Jahren Romane, Theaterstücke, Hörspiele, Fernsehspiele und Übersetzungen vorlegte, stammt selbst aus Genthin und begibt sich bei der Recherche über das Unglück auch auf Spurensuche in der eigenen Familie. Bereits 2001 hatte er über diesen „Stoff“ ein Hörspiel veröffentlicht. Wie schon in Loschütz' letztem, vorzüglichen Roman „Ein schönes Paar“ über zwei betagte Figuren, die seit mehr als vierzig Jahren getrennt leben, geht es auch nun wieder um die Rekonstruktion der Vergangenheit. Dabei steht nicht die buchhalterische Faktentreue im Mittelpunkt, sondern ein dichterischer Konjunktiv, ein ausbalanciertes Spiel mit Möglichkeiten.
Im Zentrum des Romans steht der Kulturjournalist Thomas Vandersee, der in Berlin lebt, seit seine Mutter mit ihm in den 1950er Jahren die DDR in Richtung Westen verlassen hat. Der Protagonist macht sich an die Rekonstruktion des Zugunglücks, studiert Polizeiakten, Bahnprotokolle und Wetteraufzeichnungen. Vandersees behutsame Arbeitsweise, sein pedantisches Nachforschen ist ein Spiegel von Loschütz' eigener Arbeitsweise. Wenn beide auf der Stelle treten, befragen sie sich selbst und versuchen sich mit Mutmaßungen eine neue Perspektive zu verschaffen.
Bei seiner Arbeit stößt die Hauptfigur auf die Namen Giuseppe Buonomo und Carla Finck. Fortan beschäftigt ihn die Frage, warum diese beiden Menschen offenbar gemeinsam gereist sind. Giuseppe war ein Vertreter aus Neapel, Carla die halbjüdische Verlobte eines in Neuss lebenden Juden namens Richard Kuiper. Buonomo wird schließlich unter den Toten des Zugunglücks ausgemacht.
Je intensiver Vandersee sich mit dieser mysteriösen Beziehung beschäftigt, umso stärker gerät er in den Strudel der eigenen Familiengeschichte. Carla Fincks Geschichte kreuzt sich nämlich mit dem Lebensweg von Vandersees Mutter Lisa, die 1939 Lehrmädchen im Kaufhaus Magnus war und einer unbekannten jungen Frau namens Carla Kleidungsstücke ins Krankenhaus brachte. Carla gab sich im Hospital als Ehefrau eines verstorbenen Italieners aus. Sie lebte offensichtlich in panischer Angst, fürchtete die Entdeckung ihrer Liaison mit Richard Kuiper.
An den Kreuzungspunkten der Biografien entstehen immer wieder hochkomplexe Dramen. Hauptfigur Vandersee bohrt tiefer in der eigenen Vergangenheit und gewinnt klare Konturen über seine „Vaterlosigkeit“.
Er kommt einem begabten, aber wenig ehrgeizigen und daher erfolglosen Geiger auf die Spur. Es bleibt die Frage, ob das Lehrmädchen Lisa (Vandersees Mutter) einst als Botin Briefe zwischen Richard und Clara überbracht hat.
Im Archiv eines Düsseldorfer Pflegeheims, in dem Clara später gestorben ist, entdeckt der Protagonist, dass sie zuletzt Öttinger hieß, fünfmal verheiratet war und all ihre Männer Richard hießen. Das ist bei allem Respekt vor der dichterischen Freiheit doch etwas zu viel Symbolik.
Loschütz' Roman besteht aus drei jeweils rund 100 Seiten umfassenden Kapiteln. Davon sind zwei mit fragmentarischen Anmerkungen ergänzt, „aus den Notizheften“ betitelt. Zu Beginn geht es um eine stark an den Fakten orientierte Rekonstruktion des Unglücks, um die Schuldfrage, um falsch gestellte Signale oder übersehene Warnungen.
In der Folge spielt der Zufall eine große Rolle, es werden unterschiedlichste Handlungsfäden mit plötzlichen Wendungen und gewaltigen Zäsuren miteinander verknüpft. Es entsteht daraus ein großes Stück erzählte Zeitgeschichte und eine tiefgehende Selbstbefragung der Hauptfigur. Loschütz besichtigt (wie es der Buchtitel schon suggeriert) die Vergangenheit, er poliert sie nicht, befreit sie aber von der Patina und macht sie dadurch unverfälscht sichtbar.
„Die Akten, die Briefe – ein ganz enges Korsett, in das ich mich hineinbegeben habe. Kaum Erfindungen möglich; nur Vermutungen, Rückschlüsse“, resümiert die Hauptfigur Vandersee. Aus dieser gedanklichen Melange aus Vermutungen, Rückschlüssen und Zufällen hat Gert Loschütz einen mit großer Empathie erzählten, wohltuend unspektakulären, aber dafür umso intelligenteren Roman geschrieben, der ein furchtbares Unglück, verbriefte Zeitgeschichte und private Katastrophen mit leichter Hand zwischen den Buchdeckeln vereint.
Gert Loschütz: Besichtigung eines Unglücks. Roman. Schöffling Verlag, Frankfurt 2021, 333 Seiten, 24 Euro
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
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