Matthias Jüglers Roman „Die Verlorenen“
Verlust und Verrat

„Alles stand plötzlich unter anderen Vorzeichen, und während ich die zwei dicht beschriebenen Seiten las, fühlte ich, dass ich allmählich die Kontrolle verlor“, geht es Johannes Wagner, Hauptfigur in Matthias Jüglers zweitem Roman, durch den Kopf.

Der Protagonist ist in der Vorwendezeit in Halle/Saale aufgewachsen, hat später Wirtschaft studiert und als Verwaltungsangestellter gearbeitet. Der Lebensweg des introvertierten und kontaktscheuen Johannes ist geprägt von Verrat, Verlusten und Tod. Als Mittdreißiger beginnt er mit der schmerzvollen Rekonstruktion seines Lebens und das seiner Eltern.
Autor Matthias Jügler, 1984 in Halle/Saale geboren, studierte Skandinavistik in Greifswald und Oslo sowie später kreatives Schreiben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Diesem Roman soll das Schicksal eines Künstlers zugrunde liegen, das Jügler zwar bis zur Unkenntlichkeit verfremdet hat, doch die Vita seines Protagonisten ist kein fiktives Einzelschicksal, sondern vielmehr ein wirkmächtiges Zeitzeugnis gegen das Vergessen.
Johannes Wagner verliert nacheinander Mutter, Vater und Großmutter und glaubt, selbst seine eigene Biografie habe Schaden genommen. Als er fünf Jahre alt war, starb die Mutter (angeblich an einem Herzinfarkt), mit 13 (also schon nach der Wende) verschwindet plötzlich der Vater. Beide hatten in Halle einen Lesekreis initiiert und waren dadurch ins Blickfeld der Stasi geraten. Fünf Jahre lebte Johannes dann mit der Großmutter zusammen, bevor auch die starb. Gegenüber Bekannten und Nachbarn sprach sie stets von einer Dienstreise des Vaters. Den Fragen ihres Enkels wich sie hilflos aus. Johannes spürte das (falsche?) Mitleid seines Umfeldes, das ihm als elternloses Kind entgegen gebracht wurde. Misstrauen und Angst gewannen in seinem Kopf mehr und mehr die Überhand.
Autor Jügler hat selbst Archive aufgesucht und unzählige Stasi-Akten gelesen: „Dieses System gibt es nicht mehr, das ist kollabiert, das liegt lange zurück. Aber die Biografien der Menschen gehen weiter. Diese vielen Schicksale von Menschen zu lesen, das war der pure und blanke Horror.“
Dementsprechend ließ er auch seine Hauptfigur bei der Rekonstruktion der eigenen Familiengeschichte fündig werden. Der plötzliche Tod der Mutter, das Verschwinden des Vaters – keine Zufälle, sondern traurige Folgen eines Unrechtssystems, das offensichtlich (latent) auch noch lange nach seinem offiziellen Sturz weiter existierte.
Matthias Jügler, der schon sein Romandebüt „Raubfischen“ (2015) um den Tod eines Familienangehörigen kreisen ließ, schreibt in kurzen, prägnanten Sätzen, ohne großes Pathos, aber mit einem geradezu hämmernden Rhythmus – eindringlich und suggestiv.
„Die Verlassenen“ ist ein Roman gegen das Verstummen und Verschweigen. Der 36-jährige Matthias Jügler verleiht seiner Generation eine Stimme – analysierend, bilanzierend, um Gerechtigkeit bemüht, aber nicht mit einem oberlehrerhaft-pädagogischen Impetus des Nachgeborenen. Ein Roman des Schmerzes, des Verlustes,der Ohnmacht, ja sogar des Verzweifelns an der eigenen Biografie.

Matthias Jügler: Die Verlassenen. Roman. Penguin Verlag, München 2021, 170 Seiten, 18 Euro.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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