Sigrid Nunez: „Eine Feder auf dem Atem Gottes“
Verlust der Seele
Die inzwischen 71-jährige amerikanische Autorin Sigrid Nunez ist eine literarische Spätentwicklerin. Sie war schon Mitte sechzig, als ihr mit ihrem mit dem National Book Award ausgezeichneten Roman „Der Freund“ der literarische Durchbruch gelang.
Das preisgekrönte Buch stieß ebenso wie der schmale Band „Was fehlt dir“ und ihr essayistisches Erinnerungsbuch an ihre Jahre als Assistentin von Susan Sontag („Sempre Susan“) auch hierzulande auf positive Resonanz. Mehr lag bisher von Sigrid Nunez in deutscher Übersetzung nicht vor.
Nun hat der Aufbau Verlag ziemlich weit in die Vergangenheit zurück gegriffen und ihren 1995 in den USA veröffentlichten Erstling in der Übersetzung von Anette Grube vorgelegt. Anders als vom Verlag annonciert, haben wir es nicht mit einem Roman zu tun, sondern mit vier locker miteinander verknüpften autofiktionalen Fragmenten.
Der verbindende rote Faden ist der soziale Aufstieg der Ich-Erzählerin, hinter der sich (wenig getarnt) die Autorin verbirgt. Die Rolle ihres Vaters, die Rolle der Mutter, ein zwielichtiger Liebhaber namens Vadim und die strenge, beinahe militärisch anmutende Ausbildung in einer Ballettschule sind die Sujets in dem viergeteilten Text.
„Aufzusteigen heißt, die eigene Klasse zu verraten und den Verlust der Seele zu riskieren“, bekundet die Protagonistin im Rückblick auf ihre beschwerliche, von permanenten finanziellen Sorgen geprägte Kindheit und Jugend. Die vier Texte kreisen um das Fremdsein – die Mutter stammte aus Deutschland, der Vater hatte chinesische Vorfahren und war in Panama aufgewachsen, und Vadim, der deutlich ältere, zwischenzeitliche Liebhaber, der mit 37 schon Großvater war, hatte russisch-ukrainische Wurzeln. Die Tochter erzählt zuerst aus dem Leben ihres Vaters, von dem sie kaum etwas weiß, weil sich Carlos Chang Nunez immer in Schweigen gehüllt hat und nur in einem kleinen Kreis mit chinesischem Background kommunizierte, die Mutter fühlt sich zeitlebens fremd, reist häufig nach Deutschland und wollte ihre Tochter abtreiben. Da ist viel Elend und Geraune über soziale Stigmatisierung im Spiel. Die Autorin (und mit ihr die Leser) bekommt die Beziehung der Eltern nicht rekonstruiert. Nicht emotional, nicht über gemeinsame Interessen.
Eine Höchstmaß an Kälte, an abgestorbenen Gefühlen und Gleichgültigkeit schlägt einem mit großer Wucht aus den Buchseiten entgegen. Auch Vadim passt in dieses Raster. Die Erzählerin lernt ihn als Englisch-Lehrerin für Einwanderer kennen. Er schlägt sich als Taxifahrer durch und hat früher in Odessa als Zuhälter und Drogendealer seinen Lebensunterhalt verdient. Im Gegensatz zu den Eltern der Protagonistin will Vadim dazu gehören, will sich irgendwie etablieren und „aufsteigen“. Er arbeitet daran, seine Vergangenheit abzuschütteln.
Und dann ist da noch die prägende Episode als Ballettschülerin, sozusagen der Einstieg in den Aufstieg. Disziplin wird groß geschrieben, doch die Hauptfigur ist bereit, Schmerz zu ertragen und geradezu asketisch zu leben – ganz nach dem Motto: Erfolg hat seinen Preis. „An Tagen, an denen man es geschafft hatte, nichts als einen Apfel und einen Schokoriegel zu essen, ging man mit Übelkeit und rasenden Kopfschmerzen ins Bett, aber auch mit einem Gefühl des Triumphs.“
Das liest sich alles sehr authentisch und bleibt beim Leser auch nicht ohne emotionales Echo. Doch es mangelt diesem frühen Werk aus der Feder von Sigrid Nunez noch an der erzählerischen Souveränität, an dem singulären Tonfall, der so einmalig zwischen Trauer und Trost changiert und der vor allem ohne jedes Pathos auskommt.
Vermutlich hat in diesem inzwischen 27 Jahre alten Frühwerk auch die große emotionale Nähe zum „Stoff“ verhindert, dass sich Sigrid Nunez' spätere Stärken schon ausbreiten konnten. Ein für eingefleischte Nunez-Fans wichtiges und aufschlussreiches Buch, aber (noch) kein literarisches Meisterwerk.
Sigrid Nunez: Eine Feder auf dem Atem Gottes. Roman. Aus dem Amerikanischen Anette Grube. Aufbau Verlag, Berlin 2022, 222 Seiten, 22 Euro.
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
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