Michael Köhlmeiers Roman „Die Verdorbenen“
Verdorben und doch unschuldig

„Du bist verdorben auf die Welt gekommen. Ein verdorbener Mensch und dennoch unschuldig. Das gibt es“, heißt es über den Ich-Erzähler Johann.

Der 75-jährige österreichische Autor Michael Köhlmeier, der seit den 1980er Jahren auf durchgehend hohem Niveau veröffentlicht und mit vielen Preisen ausgezeichnet wurde, hat nach den zuletzt hoch gelobten, relativ schmalen Romanen „Das Philosophenschiff“ (2024) und „Frankie (2022)“ wieder ein auf der Waage leichtes Buch vorgelegt – den novellenartigen, nur etwas mehr als 150 Seiten umfassenden Roman „Die Verdorbenen“.
Im Mittelpunkt steht eine komplizierte Dreierbeziehung in den frühen 1970er Jahren – angesiedelt in der detailliert und mit spürbarer Freude beschriebenen Marburger Studentenszene. Autor Köhlmeier weiß, wovon er schreibt, hat er doch selbst in Marburg zur Handlungszeit Politikwissenschaft und Germanistik studiert. Das Studententrio erlebt Ölkrise und Watergate-Affäre mit, ohne sich allerdings politisch zu engagieren. „Ich kannte die Welt nicht, von nichts in ihr hatte ich eine Ahnung, weder vom Klassenkampf noch von der Liebe“, bekennt Protagonist Johann. Er hatte als Tutor Geld verdient, in einem Café gejobbt, Artikel für eine Regionalzeitung geschrieben und träumt von einer Schriftstellerkarriere auf den Spuren von Balzac. Als über 70-Jähriger erzählt uns Johann diese Geschichte im Rückblick - als Versuch, sich dem jugendlichen Ich anzunähern und die Fremdheit, die sich über Jahrzehnte aufgebaut hat, zu überwinden. „Ich kann mich aus der Entfernung beobachten, als wäre ich ein anderer."
Johann bricht (eher unfreiwillig) in die Beziehung von Christiane und Tommi ein, die sich seit ihrer Kindheit kennen. Eines Tages (nach einem Spaziergang) gesteht Christiane, dass sie Johann liebt. Johann zieht zu den beiden, sie schlafen zu dritt in einem Bett, Tommi fühlt sich erniedrigt, ohne dass er dies zum Ausdruck bringt. Später suchen sich Johann und Christiane eine eigene Wohnung, nehmen den leidenden Tommi aber wieder auf. Verletzte Gefühle, Eitelkeiten bis hin zum rücksichtslosen Egoismus prägen diese Ménage-à-trois. Es geht nicht um Liebe, sondern um Macht, um die Vereinnahmung eines Menschen.
Johann bricht schließlich aus, fühlt sich in dieser unkonventionellen Beziehung gefesselt und lebt seinen unterdrückten Freiheitsdrang aus. Er geht zu seinen Eltern nach Österreich, erleichtert sie um eine stattliche Geldsumme und zieht dann weiter an die belgische Nordsee nach Ostende.
Was dort geschieht, sollte der Spannung wegen nicht verraten werden. Nur soviel: Als Kind geisterte im Unterbewusstsein ein unausgesprochener Wunsch durch Johanns Kopf: "Einmal in meinem Leben möchte ich einen Mann töten."
Michael Köhlmeier setzt sich wie schon im Vorgängerroman „Frankie“ (2022), in dem ein jahrelang inhaftierter Großvater im Mittelpunkt stand, mit den Geheimnissen des Bösen und den seelischen Abgründen in seinen Figuren auseinander. Über allem kreist die Frage: Was ist Schuld, wann macht man sich schuldig? Im Roman heißt es an einer Stelle: „Schuld besteht darin, nicht zu wissen, was man anderen antut."
Ein herrlich leicht zu lesendes Buch mit dem tragikomischen Handlungsrahmen der Dreierbeziehung, aber „Die Verdorbenen“ reicht weit darüber hinaus, geht radikal in die Tiefe, wirft existenzialistische Fragen auf und lässt den Leser gleichermaßen fasziniert wie irritiert zurück. Ganz sicher eine der herausragenden Neuerscheinungen des Bücherfrühjahrs.

Michael Köhlmeier: Die Verdorbenen. Roman. Hanser Verlag, München 2025, 158 Seiten, 23 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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