Zum 50. Todestag von Nobelpreisträgerin Nelly Sachs (am 12. Mai)
Trauer ohne Hass

„Ihr lyrisches und dramatisches Werk gehört jetzt zu den großen Klagen der Literatur, aber das Gefühl der Trauer, welches sie inspirierte, ist frei von Hass und verleiht dem Leiden der Menschheit Größe“, hieß es in der Laudatio von Ingvar Andersson anlässlich der Verleihung des Literatur-Nobelpreises, den Nelly Sachs am 10. Dezember 1966 (an ihrem 75. Geburtstag) aus den Händen des schwedischen Königs Gustavs VI. Adolf entgegen nahm.

„Der Tod war meine Lehrmeisterin. Wie hätte ich mich mit etwas anderem beschäftigen können. Meine Metaphern sind meine Wunden“, hatte die jüdische Dichterin ein Jahr zuvor anlässlich des ihr verliehenen Friedenspreises des Deutschen Buchhandels erklärt. Trotz des fast unbeschreiblichen persönlichen Leids, das ihr widerfuhr, hat Nelly Sachs niemals Hass zum Ausdruck gebracht.
So beginnt das späte Gedicht „Zeit der Verpuppung“ mit den Zeilen: „Zeit der Verpuppung,/ Zeit der Vergebung.“ Stets hat Nelly Sachs auf die Kraft des geschriebenen Wortes vertraut, auf Einsicht durch menschliche Vernunft. Sie schrieb in einer Bemerkung zu ihrem Mysterienspiel „Beryll sieht in der Nacht“ (1961): „Das Alphabet ist das Land, wo der Geist siedelt und der heilige Name blüht.“ Mit einem ähnlich versöhnlichen Tenor beginnt auch das Gedicht „Völker der Erde“: „Völker der Erde/ zerstört nicht das Weltall der Worte.“
Dabei wurde Nelly Sachs' eigener Lebensraum jäh zerstört. Am 10. Dezember 1891 wurde sie als Tochter einer wohlhabenden jüdischen Familie in Berlin geboren. Eigentlich wollte sie Tänzerin werden, doch schon früh entwickelte sich ihre Affinität zur Literatur. 1921 entstanden „Legenden und Erzählungen“, die sie der schwedischen Nobelpreisträgerin von 1909, Selma Lagerlöf, widmete. Ein Umstand, der ihr 19 Jahre später möglicherweise das Leben rettete.
1940 gelang Nelly Sachs gemeinsam mit ihrer Mutter die Flucht aus Nazi-Deutschland nach Schweden. Die damals 82-jährige Selma Lagerlöf hatte sich wenige Monate vor ihrem Tod für die damals noch weitgehend unbekannte Nelly Sachs engagiert.
Im schwedischen Exil (sie wurde später schwedische Staatsbürgerin) begann sie, intensiv zu schreiben; über persönliches und allgemeines Leid, über Trauer, Verzweiflung und Heimatlosigkeit. 1949 erschien der vielbeachtete Gedichtband „Sternverdunkelungen“, der dem Andenken an ihren 1930 gestorbenen Vater gewidmet war. Nach einer unglücklichen Liaison mit einem verheirateten Mann, die sie in einigen Gedichten thematisierte, ist die Lyrikerin zeitlebens „Single“ geblieben.
Mit relativ einfachen sprachlichen Mitteln thematisierte Nelly Sachs ihre Trauer. „Oh, ihr Finger/ die ihr den Sand der Totenschuhen leertet/ morgen schon werdet ihr Staub sein/ in den Schuhen Kommender.“ Es folgten noch die hochgelobten Lyrikbände „Und niemand weiß weiter“ (1957), „Fahrt ins Staublose“ (1961), „Glühende Rätsel“, (1964), „Die Suchenden“ (1966) und der Nachlassband „Teile dich Nacht“ (1970).
Ende der 1950er Jahre wurde Nelly Sachs in ihrer schwedischen Wahlheimat („ich bin landesflüchtig mit dem schweren Gepäck der Liebe“) für Übersetzungen deutscher Lyrik ins Schwedische mit dem Literaturpreis des Verbandes schwedischer Lyriker ausgezeichnet. Weitere bedeutende Auszeichnungen folgten: 1961 der nach ihr benannte Kulturpreis der Stadt Dortmund, 1965 der Friedenspreis des Buchhandels und als „Krönung“ 1966 (gemeinsam mit dem israelischen Autor Samuel Joseph Agnon) der Nobelpreis.
In Deutschland setzte sich vor allem der junge Hans-Magnus Enzensberger in den frühen 1960er Jahren für das dichterische Werk von Nelly Sachs ein. In der Festschrift zum 75. Geburtstag der Autorin schrieb Enzensberger: „Ihr Judentum hat sie nicht nur zum Opfer gemacht, es hat ihr auch Kraft zu getragen, uns und unserer Sprache dieses Werk zuzuwenden.“
Nelly Sachs, eine Meisterin des unprätentiösen Wortes, eine Virtuosin der leisen Töne, starb am 12. Mai 1970 in einem Stockholmer Krankenhaus an einer Krebserkrankung – am Tag der Beerdigung des von ihr hochgeschätzten Lyrikerkollegen Paul Celan, mit dem sie eine jahrzehntelange Freundschaft verband. Der noch heute äußerst lesenswerte, teils gedankenschwere Briefwechsel zwischen Sachs und Celan ist bei Suhrkamp erschienen.
Der schwedische Schriftsteller Olof Lagercrantz schrieb in seinem Nachruf völlig zutreffend: „Unter Schmerzen zu altern und zu zerschellen am Übermaß an Leid wird eine Erfahrung für immer mehr Menschen. Das bedeutet, dass Nelly Sachs zu den Dichtern gehört, die wir in Zukunft am allermeisten brauchen.“

Lesetipp:

Nelly Sachs: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Band II: Gedichte 1951-1970. Herausgegeben von Ariane Huml und Matthias Weichelt, Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 426 Seiten, 30 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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