Hans-Ulrich Treichels traurig-komischer Roman „Schöner denn je“
Träne im Augenwinkel
„Ich habe nie jemandem davon erzählt. Von meinem Auserwähltsein, wenn ich es einmal so nennen darf.“ Mit diesem Romaneinstieg führt Autor Hans-Ulrich Treichel, der von 1995 bis 2018 als Professor am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig tätig war, die Leser mit voller Absicht aufs Glatteis. Von der ersten bis zur letzten Seite begleiten wir den stets von starken Selbstzweifeln geplagten Ich-Erzähler Andreas Reiss durch die Handlung.
Er ist alles andere als ein Auserwählter, eher das Gegenteil. Er arbeitet in der Lehrerfortbildung, ist gerade geschieden und trifft zufällig in einer Berliner Kneipe, die Klaus Kinski als „Pissbude“ bezeichnet hat, seinen früheren Mitschüler Erik wieder.
Beide hat es nach dem Abitur in Ostwestfalen nach Berlin verschlagen. Erik war ein guter Schüler, ohne Streber zu sein, er war lässig, ohne dies als Haltung zu zelebrieren. Der Protagonist hat ihn stets bewundert und fühlte im Vergleich schon zu Schulzeiten „optische Defizite“. Der sich früh abzeichnende Haarausfall stand gegen Eriks Wuschelkopf.
Es war ein ständiger Konkurrenzkampf, dessen Regeln von Andreas latentem Minderwertigkeitsgefühl diktiert wurden. „Erik war nicht nur der Bessere, was die Schulnoten, die Beliebtheit bei den Mädchen, den Sport oder das Berufsleben betraf, damit hätte ich zurechtkommen können. Nein, er schien auch das interessantere und ereignisreichere Leben zu führen.“
Auch das Wiedersehen in der Kneipe fühlt sich für Andreas, obwohl ihm Erik in einer Notlage hilft, wie eine emotionale Niederlage an. Erik bietet ihm großherzig vorübergehend seine Acht-Zimmer-Wohnung im Kudamm-Umfeld an, weil er in seinem Job als Filmarchitekt wieder einen Auftrag aus Hollywood erhalten hat.
Andreas nimmt das Angebot an, findet in der Wohnung des ehemaligen Mitschülers Röntgenaufnahmen von dessen Kopf, und schließlich ruft die Filmschauspielerin Hélène an, die er seit vielen Jahren bewundert hat. Das Leben in Eriks Wohnung scheint (zumindest für kurze Zeit) den Alltag des Protagonisten positiv zu beeinflussen. Hélène will sich von ihm durch Berlin chauffieren lassen. Er fährt mit ihr kreuz und quer durch die Spree-Metropole und hört dann die für ihn erschütternde Frage: „Und Erik?“
Hans-Ulrich Treichels große Kunst besteht darin, seine herzzerreißend bemitleidenswerte Hauptfigur nicht der Lächerlichkeit preiszugeben. Sein Andreas ist ein paradigmatischer Anti-Held, ein von manischen Selbstzweifeln geplagter Großstadtneurotiker, leicht melancholisch, stets bedächtig, immer reagierend, selten eigeninitiativ, eine Träne im Augenwinkel und immer die Camus-Lektüre als eine Art „Rettungsanker“ zur Hand. Dieser Andreas möchte einfach auch einmal genießen, in Eriks Abwesenheit auch die Sonnenseite des Lebens kennenlernen.
Der 68-jährige Hans-Ulrich Treichel, der in der Vergangenheit mit seinen Romanen "Der Verlorene" (1998), "Tristanakkord" (2000), "Der irdische Amor" (2002) und „Grunewaldsee“ (2010) reüssierte, erzählt hier stets mit einem sanften Augenzwinkern. Seine leicht komödiantische, literarische Psychoanalyse kommt ohne platte Kalauer und aufgesetzte humoristische Effekte aus. Treichel findet dafür einen fein ausbalancierten Tonfall zwischen Ironie und Lakonie.
„Schöner denn je“ und der Protagonist Andreas Reiss erinnern in ihrer emotionalen Grundstimmung an den Roman „Grunewaldsee“ und dessen ähnlich „gestrickte“ Hauptfigur Paul, die sich wünschte: "Ausschlafen können und doch keine Angst vor der Zukunft haben müssen.“
Treichels Roman ist traurig und gleichzeitig humorvoll, wirkt beklemmend, aber auch befreiend, und am Ende darf sich der arg geplagte Verlierer Andreas für einen kurzen Moment sogar als Sieger fühlen. „Leben Sie wohl und nochmals Dank für alles“, lautet der letzte Satz, den die bekannte Schauspielerin Hélène an ihn richtet. Als Chauffeur hat er immerhin geglänzt. Wirklich rührend, aber nicht kitschig!
Hans-Ulrich Treichel: Schöner denn je. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin2021, 175 Seiten, 22 Euro
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
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