Paula Fürstenbergs Roman „Weltalltage“
Tomatensuppe und Depressionen

"Dies ist auch die Geschichte eurer Freundschaft und die begann 1999 in der siebten Klasse. Da hast du noch keine Selbstgespra?che in der zweiten Person geführt, da hast du noch ich gesagt, wenn du ich meintest. Da hatten Max und du überhaupt noch wenig Ahnung, welche Schwierigkeiten sich ergeben würden“, heißt es im zweiten, unter die Haut gehenden Roman von Paula Fürstenberg, in dem es um Freundschaft, Krankheiten und das Austarieren von Grenzen beim Schreibprozess geht.

Die 1987 in Potsdam geborene Autorin stammt aus einer Künstlerfamilie, studierte von 2008 bis 2011 am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und erklärt über sich: „Ich gehöre zu den Menschen, die gemeinhin als ,kränklich' bezeichnet werden und immer alles Mögliche haben“. Paula Fürstenberg weiß, wovon sie schreibt. Seit der Pubertät hat sie mit Depressionen und Angststörungen zu kämpfen.
Im Mittelpunkt ihres neuen Romans stehen eine namenlose Schriftstellerin, die an einer komplizierten Schwindelerkrankung leidet, und der Architekt Max, der durch einen familiären Schicksalsschlag aus der Bahn geworfen wird. Sie gingen gemeinsam zur Schule, beide sind Kinder alleinerziehender Mütter im Nachwendedeutschland. Sie studieren und wohnen später in Berlin in einer Wohngemeinschaft zusammen. Die Erzählerin und Architekt Max, der seine Abschlussarbeit „über die Vorteile der in der DDR entwickelten hyperbolischen Betonfertigteilschalen“ geschrieben hat, sind Mitte dreißig, als Max vom Selbstmord seinen Onkels erfährt. Die Gewichte in der Freundschaft verschieben sich, denn der kerngesunde und stets hilfsbereite Max wird von schweren Depressionen heimgesucht und ist auf „psychischen Beistand“ angewiesen.
Paula Fürstenberg erzählt von zwei hilflosen Menschen, die gerade dabei waren, berufliche und private Pläne in Einklang zu bringen. Sie lässt die Leser an ihrem eigenen Schreibprozess teilhaben, lädt ihn latent sogar zur Zwiesprache ein. Es existiert im Roman eine "Liste möglicher Anfänge" und eine „Liste der Versuche, davon zu erzählen, wie Max der letzte Mann seiner Familie wurde“. Mit den Selbstzweifeln ihrer Protagonistin schafft Paula Fürstenberg eine beinahe intime Nähe. Verunsicherung und moralische Skrupel im Umgang mit der Frage, was man schreiben darf, ohne dadurch eine andere Person zu verletzen oder zu diskreditieren, ziehen sich wie Leit(d)-Sujets durch die Handlung. "Dass Max dich bat, die Sache mit der vollgekackten Hose wegzulassen, war das erste Mal, dass er dein Manuskript nicht ergänzte, sondern einschränkte."
Max schlüpft in die Rolle eines Lektors, greift in das Manuskript ein, wenn ihm die Figur des Kranken allzu sehr entmenschlicht und zum reinen Funktionsträger degradiert wird.
Max Großmutter hatte an jenem Tag, als sich der Onkel das Leben nahm, Tomatensuppe gekocht. Die Tomatensuppe wird zur familiären Obsession. „Die Frage ist auch, wer wegen der Tomatensuppe heulen darf.“
Die Grenzen zwischen der Erzählerin und ihrer geistigen Schöpferin Paula Fürstenberg verschwimmen. "Wem gehört die Geschichte eines Kranken und wer darf wie davon erzählen?", heißt es in diesem facettenreichen Roman. Krankheit, die Belastbarkeit einer Freundschaft und biografische Zäsuren prägen die „Weltalltage“. Manchmal fühlt man bei der Lektüre auch einen leichten Schwindel und wird so von den Gleichgewichtsstörungen der Protagonistin eingeholt.

Paula Fürstenberg: Weltalltage. Roman, Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2024, 320 Seiten, 23 Euro.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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